Volltext: XV. Jahresbericht des öffentlichen Mädchen-Lyzeums in Linz 1904 (15. 1904)

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treibt, um den Nerven namentlich durch die völlige Loslösung von 
gesellschaftlichen Pflichten neue Spannkraft zu geben. Für viele ist es 
auch der Stimmungsgehalt des naturnahen Lebens, der sie anzieht und 
bewegt, und das führt uns zu der zweiten Art des Interesses, nämlich 
zum literarisch-künstlerischen. Denn wir fühlen, daß wir in eine 
neue, vielfach fremde Welt versetzt sind, die kulturfreier, daher impulsiver 
und energischer in ihren Lebensäußerungen, einfacher und gesünder in 
ihrer Lebensführung, beschränkter und idyllischer in ihrer Lebens- 
auffafsung ist; wir fühlen, wie sich nach Goethes Wort „nah' der 
Natur menschlich der Mensch noch erzieht". Und da ist es namentlich die 
Denkart dieser so ganz anders gearteten Menschen, die unser psycho- 
logisches Interesse wachruft. Aber auch die Freiheit und Ungezwungenheit 
ländlichen Lebens hält nicht stich vor dem Auge des schärferen Beob¬ 
achters. Und wer darum aus kulturhistorischem Interesse sich mit 
Bauer und Bauerntum beschäftigt, wird bald sehen, daß alle die 
Aonvenienz und gesellschaftliche Sitte, der wir selbst entfliehen wollen, 
in oft noch starrerer, eigensinnigerer Form auch jene Rreise gefangen hält, 
die uns beim ersten Anblick so frei, so ungezwungen, so idyllisch gemütlich 
erscheinen. Gefühlsmenschen im Sinne unseres braven Claudius, der 
den Bauer seinen Nachbar ins Abendgebet einschließen läßt, sind unsere 
Bauern nie gewesen und von der gefühlvollen, zarten, romantischen 
Seite darf man sie nicht nehmen. Überall, wo die Literatur das getan 
hat, befand sie sich auf falschem Boden und wurde unwahr und 
unkünstlerisch. 
Von diesen allgemeinen Punkten wollen wir nun auf die literarische 
Auffassung von Bauer und Bauerntum übergehen. Ls lassen sich im 
großen und ganzen fünf Hauptrichtungen unterscheiden: Die naive, 
2. die sentimentale, 3. die satirische, H. die realistische und 5. die soziale. 
Scheiden wir die dritte Gruppe vorläufig aus, so stehen die übrigen 
vier Richtungen zugleich auch in einem gewissen chronologischen Oer- 
Hältnisse; in dieser Reihenfolge ungefähr lösen sie einander ab. Wenn 
die satirische Richtung neben allen anderen einherläuft und eine chrono- 
logische Einordnung nicht gut verträgt, so muß auch von den anderen 
gesagt werden, daß die zeitliche Aufeinanderfolge durch Linzelerscheinungen 
unterbrochen wird und daß namentlich nicht in allen Literaturen die 
Reihenfolge die gleiche ist. Aber im allgemeinen läßt sich diese Anordnung 
als chronologisch verteidigen, vor allem aber ist hier nochmals auf jene 
Vermischung der Gattungen hinzuweisen, die es oft schwer macht, eine 
Entscheidung zu treffen, ja oft unmöglich, ein bestimmtes U)erk mit 
Sicherheit der einen oder der anderen Gruppe zuzuweisen. (Ls wird sich
	        
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