Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

Kirchler. Aber das waren ja alberne Gedanken, Phantasiegebilde, geboren hier im 
Zauberreich der Waldeseinsamkeit. , 
Am nächsten Morqen schritten sie beide, Erna und Siegfried, über das tau- 
naiie Gras durch den Wald, der da glänzte in goldigster Morgenpracht. Die Vogel 
( J ■ s.pt. Omeiaen trauriae Weisen, Abschiedsmelodien, und sie beide schritten 
ernst und schweigsam nebeneinander. Sie hatten ihr Ziel, die Haltestelle_ bei 
2 prrpirfit Es war höchste Zeit. Noch ein Händedruck, ein herzliches Lebewohl, 
5 * ' hnhnn-fotttofit fort. Erna sah noch einmal in des Jägers treue, 
blaue Augen, dann raste der sonst so langsame Zug dahin über ödes Land, über 
Heide und Sand. 
_ "Doktor Walter und seine Tochter Erna waren wieder daheim. — Des leidenden 
Mannes letzte Lebenskraft war gebrochen. Er konnte seine Berufsstflichten^nichtmehr 
erfüllen, er mußte zu 
Bett liegen, und Erna 
war seine treue Pfle¬ 
gerin. Das war für 
das junge Mädchen 
eine schwere, schwere 
Zeit, so tagaus tagein 
und die langen schau¬ 
rigen Nächte am Lager 
eines Schwerkranken 
sitzen. Die Sorgen um 
den Vater, die Sorgen 
ums tägliche Brot, ach, 
die nagten an ihrem 
jungen Herzen. Sie 
konnte nichts ver¬ 
dienen, und des Vaters 
geringe Ersparnisse 
waren aufgebraucht. 
ringsumher Christ¬ 
bäume strahlten und 
fröhliche Kinder jubel¬ 
ten, als Doktor Walter 
zum letztenmal die 
Hand seiner Tochter 
an die blassen Lippen 
drückte und Abschied 
nahm mit den Worten: 
„Der Stern von Bet- 
lehem scheint auch in 
unsere dunkle Stube. 
Siehst du ihn leuchten 
am Himmel ? Folge 
ihm, und wir werden 
uns wiedersehen, mein 
geliebtes Kind." 
Erna stand nun 
ganz allein auf der 
weiten Welt. Der ge¬ 
ringe Erlös für das 
verkaufte Mobilar 
Sie war also 
die 
Es war am heiligen 
Abend, gerade als 
reichte gerade nur, um allerle. Schulden und Zahlungen zu decken, 
eine arme Waise. Aber da stand eines Tages eme Annonce in einer Zeitung, 
Erna zufällig zu Gesicht bekam: Eine alte adelige Dame suchte zu chrer Pflege und 
Gesellschaft ein junges, gebildetes, in der Krankenpflege erfahrenes Mädchen. Erna 
bewarb sich um diese Stelle, und die Baronin von Lützow engagierte sie. 
Es war keine leichte Stellung, die Erna auf Schloß Rakow hatte. Ihre Herrin, 
eine ehrwürdige, sanftmütige Matrone, bildete sich nämlich nicht weniger als acht 
verschiedene Krankheiten ein. Erna mußte sich ganz ihren Launen fügen, und das 
war schwer. Der Baron war ein alter, mürrischer Herr, und Agathe, die einzige 
Tochter, war ebenso hochmütig wie häßlich. ■ , 
Erna hatte gelernt, sich in alles zu finden. Sie tat willig, was die Baromn 
von ihr verlangte, sie half willig, wenn sie die Dienstmädchen bet großen Gesell¬ 
schaften, die trotz aller Krankheiten oft stattfanden, unterstützen mußte m der Küche 
und beim Servieren.
	        
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