Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

Schneeflocke«. 
Humoreske von Gustav Dahl er. 
(Nachdruck verboten.) 
s schneite unaufhörlich. Der Schnee fiel in wirbelnden Kreisen in großen 
und kleinen Flocken, und hatte die Straßen wohl schon einen halben Fuß 
hoch bedeckt. Nichtsdestoweniger war ein reges Leben in der Straße „Unter 
den Linden" in Berlin zu bemerken. Es war der letzte Tag im Jahre und 
alle Passanten schien eine gewisse Ausregung zu beherrschen. Nur ein elegant 
gekleideter Herr, vielleicht Mitte der Vierziger, in einen Pelzmantel gehüllt, 
einen tadellosen Zylinder auf dem Kopfe, die Füße in großen Gummischuhen steckend, 
icbien gar keine Eile zu haben. Langsam schlenderte er die Gehstege entlang, gemächlich 
ben Rauch einer feinen Zigarre von sich btafenb. Dies war ber Rittergutsbesitzer 
Herr ©lunar v. Prachendors. Herr v. Prachendors war in seiner Jugend ein glanzender 
Kavalier gewesen. Leider hatte er sein großes Vermögen im Laufe der Jahre durch 
eine zügellose Lebenslust fast gänzlich aufgebraucht. Er war, besonders in den letzten 
Jabren wie man so sagt, sehr — vom Gummirade gekommen, und nun lebte er 
von den schmalen Einkünften, die ihm sein ohnehin nicht schuldenfreies Rittergut 
abwarf. Mit der ihm angeborenen Noblesse sah er jetzt über manche Annehmlichkeiten 
des Lebens hin, die er vor Jahren um keinen Preis hätte entbehren können. Herr 
v Prachendors war ein immer noch hübscher, stattlicher Mann. Seine Augen konnten 
noch im Feuer der Jugend glänzen, und seinem eleganten, stark ms Graue spwlenden 
Schnurrbart ließ er eine besondere Pflege angedechen. — Sem einzigster Gedanke 
war der, noch eine gute Heirat zu machen. Diese Heiratsidee war sem Rettungsanker. 
Gewiß gab es doch noch reiche Damen, Töchter von Großindustriellen, die 
aern für einige hunderttausend Mark eine Frau v. Prachendors werden würden! 
Lächerlich! Wenn er nur wollte! Zwar gaben seine Freunde ihm gelegentlich zu 
verstehen, daß der Mondschein auf seinem edlen Haupte im Zunehmen begriffen 
sei, aber v. Prachendors beeilte sich nicht allzusehr mit seinen Heiratsplanen. Er 
war sicher, zu siegen, wie und wann er wollte! _ 
Wie er so in Gedanken dahinging, fuhr eine elegante Equipage ganz dicht 
an ihm im Schritt vorbei. Ein entzückender Damenkopf sah aus dem geöffneten 
Fenster. Die Insassin mochte wohl 25 Jahre alt sem Die Schneeflocken stürmten 
m das Innere des Wagens und setzten sich der jugendlichen Erscheinung mit großer 
Kübnheit auf das reizende Stumpfnäschen, auf_ diepechschwarzen Haare und auf 
die rosigen Lippen. Eine feine, in Perlgrauen Handschuhen steckende Hand wehrte 
die frechen Eindringlinge nach Möglichkeit ab. . . * 
v. Prachendors hatte kaum die Dame erkannt, als er sich beeilte, mit welt¬ 
männischer Eleganz seinen Zylinder zu ziehen und eine außerordentlich noble Ver¬ 
beugung zu machen. Die junge Dame hatte ihn augenscheinlich erkannt und erwiderte 
seine Gtüße mit einfacher Freundlichkeit. Der Wagen rollte dahin. Herr von
	        
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