Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1907 (1907)

Die Mannschaft umringte ihn, Tränen standen in seinen Augen, wehmütig 
blickte er nach dem auf der Seite hängenden Boote, nach dem flammenden Wrack, 
das jetzt, nachdem dessen Segel verbrannt waren, nur langsam und bleiern schwer 
über die Wellen glitt. 
„Mein Kind, mein Kind!" jammerte die Mutter herzzerreißend fort und fort. 
Jedes Auge war mit Tränen gefüllt. 
„Gott helfe dir, armes, unschuldiges Geschöpf!" seufzte der Kapitän. „Was 
kann hier geschehen?" 
Da trat der Steuermann hervor, ein Sohn von Erins grüner Insel. 
Der Steuermann überlegte nicht lange; der Gedanke an die eigene Mutter, 
an die Geschwister erfüllte seine Brust; er sprang in das Boot, und mit einer 
Stimme, einem Ausdruck in seinen Zügen, die mir stets unvergeßlich bleiben werden, 
rief er: 
„Alt Irland für immer! Du sollst dein Kind wieder haben, Mutter!" 
Er machte darauf schnell das Boot los; im Augenblicke folgten ihm mehrere 
Matrosen, eine momentane Stille an der Leeseite des Schiffes ward benutzt, das 
Boot von dem Kranbalken herabgelassen und kühn ruderte die kleine Bemannung 
nach dem Wracke. 
Die stillen Gebete aller folgten den Braven. 
AIs das Boot sich dem verlassenen Fahrzeuge näherte, war der große Mast 
bereits über Bord gefallen, ward aber durch Taue noch am Schiffe festgehalten, auf 
denen der Steuermann, von einem Matrosen gefolgt, behend hinaufklomm. 
Beide eilten dann nach der Kajüte, aus der ein dicker, erstickender Dampf und 
Rauch hervorquoll, welcher das Hinabsteigen unmöglich machte und sie zwang, auf 
den noch unversehrten Teil des Deckes in die Nähe des Steuerrades zu eilen. 
Die Taue, von denen bis jetzt der Mast gehalten worden, waren nun durch¬ 
gebrannt, die Sparren trieben fort, da standen die beiden braven Männer nun zwischen 
Feuer und Wasser, nur wenige Augenblicke waren ihnen zum Suchen gegönnt. 
Gott war ihnen aber gnädig, Gott gab ihnen gewissermaßen einen Wink, daß 
sie es finden konnten. 
Und wo war das Kind? 
Eingehüllt in einen wärmenden Mantel, dicht unter einem Wasserfasse, lag es, 
wie an seiner Mutter Brust, lächelnd im ruhigsten Schlummer; hier, wo nichts als 
die süße Unschuld zu schlummern vermochte, während Flammen und tobende Wellen 
um seinen Besitz zu kämpfen schienen. 
Schneller fast als ein Gedanke befestigte der kühne Seemann das Kind auf 
seinem Rücken und sprang mit der teueren Bürde über Bord in die Wellen, sein 
Begleiter folgte ihm- 
Nach einigen Minuten atemloser Erwartung zeigte ein Freudenruf aus dem 
Boote, den Sturm übertönend, uns die glückliche Ankunft und die vorläufig gesicherte 
Aufnahme der Geretteten in dasselbe an. 
Die Stimme der Vorsehung schien in diesem Moment sich erhoben und Wind 
und Wellen Ruhe geboten zu haben, so schnell legte sich die Wut der Elemente. 
Das Boot kehrte unter dem Jauchzen und den Dankgebeten aller sicher an 
Bord zurück. 
Mit nicht zu beschreibender Empfindung preßte die junge Mutter ihr Erst- 
gebornes wieder an das Herz und ungezählte Küsse drückte sie ihrem geretteten Lieb¬ 
linge auf Mu«d und Wangen; aber der Uebergang vom furchtbarsten Schmerz zur 
unaussprechlichsten Freude war mehr, als ihr äußerst schwacher Körper zu ertragen 
vermochte.
	        
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