Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1905 (1905)

Wenn Du meinem Kindlein in die unschuldigen Blauäuglein blickst, dann ge¬ 
denke auch seiner unglücklichen Mutter und bewahre ihr ein liebevolles Angedenken." 
Hier brach der Brief plötzlich ab. — Leni hatte die Schlußworte losgetrennt. 
„Muhme," sprach Vroni mit zitternder Stimme, „warum sollten mir die 
weiteren Worte meiner Mutter verborgen bleiben?" 
„Kind, hab ich Dir nicht gesagt, daß die Stunde noch nicht gekommen ist, in 
der Du den Namen Deiner Mutter kennen lernen sollst?" 
„01" rief Vroni, indem sie vor Leni in die Knie sank, „so nennt mir den 
Namen Desjenigen, der meine Mutter zur Verzweiflung getrieben, der ihr treues 
liebevolles Herz gebrochen, der mutwilliger Weise die heiligste Pflicht, die er vor 
dem Altare Gottes beschworen — die Gattenpflicht mit Füßen getreten, damit ich 
ihn kennen und verachten lerne!" 
„Halt, Kind!" rief Leni, „bedenke, daß Derjenige, von dem Du so sprichst, 
Dein Vater ist. Ehre Varer und Mutter, befiehlt das Gebot Gottes, — verurteile 
Niemanden, auch den nicht, der Dir Uebles getan." 
„Noch kannst Du nicht wissen, ob das Herz Deines Vaters wirklich verderbt 
war, oder ob seine Handlungsweise nicht vorübergehendem jugendlichem Leichtsinne 
entsprungen. — Hatte er doch keine Ahnung davon, daß er Vater war, wer weiß, 
ob ihn dies Bewußtsein nicht zur Gesinnung gebracht, ihn nicht zurückgeführt hätte 
zum liebevollen Herzen Deiner Mutter —" 
Statt jeder Antwort warf sich Vroni neben Leni auf die Bank, um dem 
Thränenstrome freien Lauf zu lassen. 
Es trat eine lange, bange Pause ein. Leni selbst tief ergriffen, war keines 
Wortes mächtig, die Weinende zu trösten. Sie führte Vroni wieder vor die Hütte. 
Ein heftiger Donner ließ beide erschrecken. 
Endlich brach Leni das Schweigen. 
„Laß Dir noch die wenigen Worte, die ich Dir zu sagen habe, mitteilen. Ich 
hatte kaum den Brief gelesen, schickte der alte Furtner nach mir. — Am Berghofe 
angekommen, erfuhr ich, daß man dort nachts ein Kind hinterlegt hat. — Vroni! 
Kind! ahnst Du, welcher Gedanke mich sofort erfaßte? Ahnst Du, welches Gefühl 
sich meiner bemächtigte, als meine Vermutung sich bestätigte, daß dies Kind dasselbe 
war, das einige Tage vorher in meiner Hütte geboren wurde. — O, ich hätte nun 
jedem, der lieblos von der „Rabenmutter" sprach, zurufen können: „Nicht sie ist der 
schuldige Teil, sondern der, der so gewissenlos ein ihm angetrantes, nach Liebe und 
Treue schmachtendes Herz in Verzweiflung getrieben; doch ich mußte alles über Deine 
Mutter ergehen lassen, um sie und mich nicht zu verraten. — Aber was sollte ich 
tun? Sollte ich mich Furtner zu Füßen werfen, ihm die Tat Deiner Mutter ein¬ 
gestehen und dadurch dieselbe dem Gerichte überliefern? Sollte ich Stillschweigen 
bewahren und mich zur Mitschuldigen machen? Der alte Furtner war ein seelenguter 
Mann, ich wußt es, er würde das arme verlassene Kind nicht von sich stoßen. — 
Ich beschloß daher in meiner Verzweiflung, vor allem den Bruder in das Geheimnis 
einzuweihen und die Entscheidung ihm zu überlassen. — Indessen nahm ich mich zu 
Folge der Bitten des guten alten Furtner des verlassenen Kindes an. O, er hatte 
keine Ahnung, mit welchen Gefühlen ich an dein Bettlein trat, welchen Kampf es 
mich kostete, mich aufrecht zu erhalten, um nicht selbst die Verräterin des Geheim¬ 
nisses zu werden. Der Bruder benachrichtigte mich, daß er nicht sofort kommen 
könne, da er soeben mit seinem Geschäfte abschließe, um es zu übergeben; doch möge 
ich einstweilen Stillschweigen bewahren. Indes war einige Zeit vergangen, da kam
	        
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