Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1904 (1904)

Leinläufer! Das heißt in Sonnenbrand und Regen die Brust wider ein hand¬ 
breites Ledergut stemmen, das kein volles Atemholen gestattet und die keuchende 
Brust blutrünstig schindet; das heißt, mit tief zur Erde gebeugtem Oberkörper tm 
Schneckengang wieder und wieder den gleichen Weg ziehen, bis man jeden Stein 
ans den Leinpfad kennt und an ihnen den zurückgelegten Weg zu schätzen vermag; 
das heißt zu wissen, daß der Himmel blaut, und nicht aufschauen zu können, den 
Schlag der Nachtigall aus einer rosendnrchdufteteu Schlucht zu hören und nicht 
anhalten m dürfen' unb all' dies will Karl Dönhoff auf sich nehmen, um der 
Frau feines Bruders stets hülfreich nahe zu fein, die vielleicht fein Opfer noch 
nicht einmal ahnt, während der Bruder über die Dummheit des Jüngeren fpottet, 
die er nicht begreift, und von der er nur weiß, daß sie dauern wird, so lauge 
Karl's Kräfte ausreichen. _ 
Jahr um Jahr bleibt dieser Leinläufer; sein Rücken krümmt sich, die Schultern 
werden schief und die Beine drücken sich in den Knieen hohl nach hinten durch; Wind 
unb Wetter blichen das Haar und färben die eingefallenen Wattgen erdbraun. Aber 
Heinrich hat Stina nie mehr geschlagen; das hat er durchgesetzt, er hat gelernt, des 
Bruders Branntweinlaune aus sich abzulenken. Und wenn er Abends auf fernem 
Strohsack liegt, in dem bunklen sargähnlichen Verschlag im Hinteren Schiff, während 
sein Genosse neben ihm schnarcht, die Kälte durch die Ritzen schleicht unb vom 
Wirtshaus am Ufer, wo Bruder unb Schwägerin sich ergötzen, Lärm unb Musik 
herübertönt, bann fühlt er sich so froh unb leicht, unb blickt itt frommen Gedanken 
zu bett ewigen Sternen, bie burch bie Astlöcher im Dache in sein finsteres Verließ 
strahlen. . . , 
Sein Leben ist nicht freudenlos. Des Bruders Kind, das Einzige, ein auf¬ 
geweckter, hübscher Knabe, hat fein reines weiches Herzchen dem Onkel geöffnet, bet 
beut er bie aufrichtige Liebe finbet, welche ihm feine Eltern nicht gewähren können. 
Das sinb Feierstunden für bett Einsamen, wenn er bett Keim ber göttlichen Lehren 
in bie Kindesseele legen kann, wo er zu duftenden Blüten entsprießt. Tagsüber, 
während des harten Frondienstes, legt er sich bie Gedanken für bie abendlichen 
Lehrstunden zurecht, während der andere Leinläufer die leichtfertigen Lieder vor sich 
hinsumint, die er an Rasttagen in den Schisserkneipen vernahm. Heinrich gibt sich 
den Anschein, als ob er den Verkehr zwischen Karl und seinem Sohne nicht merkte, 
und Stina sieht ihn nicht ungern. • „ , ,ri E r± 
Die Zeit vergeht; der kleine Heinrich kommt tit's achte ^ahr. Karl ist säst 
ein Greis; sein Bruder ist beleibt geworden, hat ein mächtiges Doppelkinn und 
strotzt vor Gesundheit. Seine Frau ist im vorigen Winter gestorben, während er 
bei Franz Schütte zu Besuch weilte. . „ . 
Ganz still und ohne Kamps ist Stina von der Welt geschieden. Karl und 
ihr Sohn weilten allein an ihrem Sterbelager, benn Tante Traudchen hatte schon 
vor mehreren Jahren die große Reise von ihrem Hos in die Ewigkeit angetreten. 
„Karl," hatte Stina gelispelt, als schon der Todesschweiß auf ihrer rundlichen 
Stirn stand, „ich weiß, was Du für mich getan haft." 
„Dens nicht dran, spricht nicht davon," hatte er rot vor Beschämung erwidert. 
„Mein Kind, mein Junge, Du wirst ihn nicht verlassen, wenn ich todt Bin, Kart. 
„Nein, beteuerte er mit fester Stimme, so wahr mir Gott helfe." 
Dann war sie ganz ruhig geworden und betend entschlafen. Karl vergoß keine 
Träne; fein Schmerz war rein und geläutert. 
In der Folgezeit hatte er sich noch enger an feinen Neffen angeschlossen, der 
ein frommes und gutes Kind blieb, trotzdem er nach Stina's Tode dem schlechten 
Einfluß feines Vaters mehr als füher ausgesetzt war. —
	        
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