Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

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wurde ihm mitgetheilt, daß die gnädige Herrschaft ausgefahren sei und erst spät 
zurückerwartet würde. Unschlüssig stand er da und überlegte, was zu thun sei. Da 
er indessen die kleine Gertrud nicht wieder mitnehmen wollte, übergab er sie einst¬ 
weilen dem Kammermädchen. Allein Gertrud fieng heftig zu weinen an, als ihr 
Beschützer sie verlassen wollte; er redete ihr liebreich zu, doch sie schluchzte nur um 
so heftiger. 
„Nimm mich wieder mit, lieber, guter Herr Doktor," rief sie, sich an ihn 
klammernd, „ich will zu meinem Vater, ich will nicht dableiben!" 
So sehr es dem guten Doktor zu Herzen gieng, es half nichts —, er ver¬ 
suchte, die kleinen Hände von seinem Arm zu lösen. Endlich war es ihm gelungen. 
„Hör' auf mit dem Geflenne", schrie das Kammermädchen heftig das Kind an, 
nachdem der Doktor fort war, und schüttelte es derb hin und her. 
„Na" fuhr sie dann fort, „da hat sich die Gnädige eine schöne Ruthe aufge¬ 
bunden, ich danke. Wenn ich nur wüßte, wo ich den Schreihals unterbrächte, bis die 
Herrschaft heimkommt und das Nähere bestimmt?" 
„Nimm das Mädel doch einstweilen mit in Dein Zimmer," rieth die Köchin. 
„Fällt mir nicht ein, ich will Ruhe haben," war die rasche Entgegnung. 
Wie ein scheues Vöglein drückte sich die Kleine in die Ecke und schluchzte weiter. 
Das bittere Gefühl des Verlassenseins bemächtigte sich ihrer, es wurde dunkel um 
sie her, und Niemand kümmerte sich um das Kind. Als die Herrschaft nach Haufe 
kam, da war die kleine Gertrud eingeschlafen. Die braunen, mageren Händchen hatte 
sie in einander verschlungen, auf den Wangen sah man noch deutlich die Spuren 
der vergossenen Thränen.— 
III. 
Jahre sind vergangen. Die Tochter des Taglöhners Konrad Grüner ist zu 
einem schönen, blühenden, stattlichen Mädchen herangewachsen. Sie hegt eine zärtliche, 
liebevolle Zuneigung für ihren alten Vater, dessen Stolz und Freude sie ist. Täg¬ 
lich legt sie den Weg vorn Herrenhause nach der niedrigen Hütte zurück, täglich er¬ 
mahnt der Alte seine Tochter, gut und fromm zu bleiben, und sich der gnädigen 
Herrschaft dankbar zu erzeigen für alle Wohlthaten. Auch Frau Emma v. Tannheim 
hatte es nicht bereut, daß sie damals das kleine Mädchen ins Haus nahm. Freilich, 
im Anfang schien es, als könne sich Gertrud in dem vornehmen Hanse nicht einge¬ 
wöhnen, sie weinte Tag und Nacht, und Frau Emma hieß das Kind, sobald es sich 
bei Ihr zeigte, sofort wieder hinausgehen, weil das Weinen sie nervös machte. Der 
gnädige Herr kümmerte sich nicht im entferntesten um die Kleine. 
Aber mit einem Mal änderte sich die Sache. Als nämlich die junge Frau 
eines Abends gerade znsällig an der Kammer vorbeiging, die man Gertrud zum 
Schlafen angewiesen hatte, hörte sie das Kind drinnen wiederum heftig weinen. Ein 
tadelndes Wort auf den Lippen wollte sie eben in das Gemach treten, blieb aber 
unentschlossen stehen und lauschte; denn Gertrud hub eben an, wie sie es von 
frühester Jugend ans gewohnt war, und wie die Eltern es sie gelehrt hatten, ihr 
Nachtgebet zu sprechen. Oft unterbrochen von bitterlichem Schluchzen, aber doch ver¬ 
ständlich klangen die Worte heraus: 
„Du mein Schutzgeist, Gottes Engel, weiche, weiche nicht von mir, 
Seite mich dnrch's Thal der Mängel, bis hinauf, hinauf zu dir! 
Saß mich stets auf dieser Erde deiner Führung würdig sein, 
Hilf mir, daß ich besser werde, laß mich keinen Tag entweihn. 
Steh' vor Allem mir zur Seite, wenn Versuchung lockt und winkt, 
Steh' mir bei im letzten Streite, wenn der Muth zum Kampfe sinkt."
	        
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