Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

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stolz waren auch die Bewohner, die Nachkommen eines uralten, einst reichen und 
mächtigen Adelsgeschlechtes. Der gegenwärtige Herr des schönen Besitzthums, Eugen 
v. Tannheim, war der flotteste Offizier gewesen, den man sich denken konnte. Man 
munkelte Verschiedenes über die Schulden des gnädigen Herrn, die ihn, wie es all¬ 
gemein hieß, zuletzt zwangen, seinen Abschied zu nehmen und sich auf ein stilles 
Tannheim, den eigentlichen Stammsitz der Familie, zurückzuziehen. 
Die Landbewohner, die trotz alledem noch einen gewaltigen Respekt vor dem 
gnädigen Herrn hatten, wagten indessen nicht, irgendwelche Aeußerungen laut werden 
zu lassen. Für Eugen v. Tannheim aber existirten „diese Leute" überhaupt nicht; 
er unb seine Frau, eine stolz und hochmüthig breinblickenbe Blonbine, Pflegten über 
bie Bauern hinwegzusehen, als wären sie gar nicht vorhanben. 
Wenn Frau Emma v. Tannheim sich langweilte, was eben nicht selten geschah, 
so bebeutete bies für die Dienerschaft jebesmal einen schlimmen Tag. Man konnte 
bann gar nichts Besseres thun, als ber Gnäbigen so viel als möglich aus betn Wege 
zu gehen, benn in biefer Zeit war ihr burchaus nichts recht zu machen. Wenn aber 
zur Langeweile sich noch ber schlimmste Feinb so mancher vornehmen Frau, bie 
Migräne, gesellte, bann war es vollenbs nicht mehr auszuhalten, bann betrat selbst 
ber gnäbige Herr nur auf ausbrücklicheu Wunsch seiner Frau ihr Zimmer. Herr 
Eugen v. Tannheim machte bann jebesmal ein Gesicht, als ob er in einen sauren 
Apfel gebissen hätte, boch saß er gebulbig eine Zeitlang neben betn Ruhebett, auf bent 
bie Seibenbe lag, unb hörte ihre Klagen unb Seufzer an. Daß er sich babei ab¬ 
mühte, irgenb etwas zu ersinnen, bas ihm Gelegenheit gab, so balb als möglich zu 
entrinnen, brauchte bie Gattin ja nicht zu wissen. 
Frau Emma v. Tannheim gehörte zu jenen Naturen, bie immer etwas zu 
klagen haben, um sich unb ihre Umgebung bamit zu quälen; beshalb wechselte auch 
bie Dienerschaft sehr oft, unb man hatte immer frembe Gesichter um sich. Der gnäbige 
Herr benutzte baher jebeu sich ihm bietenben Borwanb, dem „Gewinsel" zu entfliehen. 
Der Einzige, ber ber Gnäbigen manchmal derb bie Wahrheit sagte, war ber alte 
Hausarzt, Dr. Rottner. Er bürste sich bas erlauben, benn er war schon bei ben 
Eltern ber jungen Frau Arzt gewesen, unb hatte Emma schon als Kinb gekannt. 
Er verlor auch nicht so leicht bie Geduld, wenn man ihn um jeber Kleinigkeit willen 
ins Herrenhaus berief. 
Es war ein furchtbar heißer Tag, unb Frau Emma hatte ihre Migräne „wie 
noch nie". Alle angenmnbten Mittel erwiesen sich als fruchtlos, keines wollte Linbetung 
bringen. Mehr als eine halbe Stunbe war schon vergangen, seit man ben gnäbigen 
Herrn zu ber Leibenden gerufen. Sie lag auf ihrem Ruhebett unb ergieng sich wie 
gewöhnlich in heftigen Klagen über ihr schweres Geschick, bas kaum noch zu ertragen sei. 
Herr v. Tannheim vermochte seine Ungebulb nicht länger mehr zu unterdrücken. 
„Ich meine," begann er, im Zimmer hin unb her gehenb, „Du solltest lieber 
ein wenig frifche Luft hereinlassen, anstatt so in biesem Haldbunkel hier zu liegen, 
ober geh boch ein wenig spazieren. Du kommst bann auf anbere Gebanken." 
Sie warf bent Sprecher einen vorwurfsvollen Blick zu. „Nein, nein, ich will 
nicht, bie Luft unb bie Sonne, bas Alles schabet mir, ach ich bin so matt unb kraftlos, 
unb viel kränker als Du denkst!" 
„So fahre boch, wenn Du schon nicht gehen willst", meinte er wieber. 
»Ich glaube, Du hast nicht bas richtige Verstänbniß für mein Leiben, bas 
Räbergeraffel würbe mich noch mehr aufregen!" 
»Aber ich möchte wirklich ein wenig frische Lust schnappen, liebe Emma, ich 
— komme balb wieder zurück!"
	        
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