Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

Herrn blickte, den er schlafend glaubte, fand er dasselbe leer und voller Schrecken 
alarmirte er das ganze Haus. Bald fand man seinen beklagenswerten Herrn in 
tiefer Ohnmacht auf der feuchten Veranda liegen und als er endlich durch die Be¬ 
mühungen seines treuen Dieners erwachte, war sein Zustand ein sehr bedenklicher. 
Am nächsten Morgen ließ Karl Werner den Lieutenant Hans von Born, von 
dem ihm Lisa früher vorübergehend gesprochen hatte, zu sich bitten und hielt mit 
dem anfangs sehr erstaunten, jungen Manne eine lange Unterredung. 
Sehr ernst und bleich stand der junge Offizier nach Verlauf einer Stunde 
an dem Lager des Kranken, und sagte: „Ich kann es nicht annehmen, Herr 
Werner, ich kann es nicht." 
„Herr von Born," erwiderte der Leidende, „wenn Sie die letzte Bitte eines 
Sterbenden erfüllen wollen und demselben noch eine glückliche Stunde bereiten 
möchten, dann schlagen Sie mein Anerbieten nicht aus. Ich wünsche, daß Lisa 
glücklich wird, nur dann kann ich leicht sterben. Ich will aber nicht, daß Sie die 
Vorgänge des gestrigen Abends erfährt, wie Sie sie von mir gehört haben. Darum 
erfüllen Sie meine Bitte, nehmen Sie die Kaution von mir an und geben Sie vor, 
es sei das Erbteil eines alten Onkels, welches Ihnen unerwartet zugefallen sei. 
Gott wird Ihnen diese kleine Lüge verzeihen," setzte er wehmütig lächelnd hinzu. 
„Es ist nur eine Form," fuhr er erschöpft fort, „im übrigen erbt Lifa Arnold 
mein ganzes Vermögen, ich habe "ja sonst niemanden auf der Welt, den ich lieb habe." 
Mit Thränen in den Augen und festem Handschlag, der fast einem Schwur 
gleichkam für Lisas künftiges Glück, nahm Herr von Born die großmütige Gabe an. 
Drei Tage später kniete Lisa unter heißen Thränen am Sarg des geliebten 
Jugendfreundes, Hand in Hand mit ihrem Verlobten Hans von Born. Der Ver¬ 
storbene hatte selbst die Hände der jungen Leute ineinanbergelegt und war dann 
mit einem zufriedenen Lächeln auf dem eblen Antlitz sanft hinübergeschlummert in 
die Ewigkeit. . t ^ „ 
Das Andenken an die fröhliche Zeit der Nachbarskmder, Liebe und Dank¬ 
barkeit für ben Frennb unb Jngendgefpielen blieb allezeit lebenbig im Herzen Lisas. 
Auf bem Grabhügel Karl Werners blühen Rosen unb Veilchen in seltener 
Pracht unb wenn ber Winb leise über bas Grab streicht unb bie buftenben Blumen 
küßt, bann klingt es gerabe, als flüstere ber Tote einen Segen herab auf bas 
junge Paar, bereu Glück er geschaffen. 
Das Md am Ctttbculnmntc* 
Georg StrtgL 
(Es steigt beim £tnbenbaume i Sie neigt sich, metm ich bete, 
(Empor~em lieblich Bild, £ So liebevoll herab, 
Benetzt vom zarten Schaume H So lieb ist mir die Stätte, 
Des (Quelles, der dort quillt. Y Wie meiner Eltern Grab. 
^old kränzet eine Binde, wenn es kein Frevel wäre, 
Gewebt aus Immergrün, § ' So müßte unterm Stent, 
Marien mit dem Kinde — V Ganz ohne Schmuck und Ehre 
Dort möcht’ ich ewig knien. f Einst meine Ruhstatt sein.
	        
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