Nachbarskinder.
Novellette von Elisabeth Kronau.
Sie waren Nachbarskinder gewesen von frühester Kindheit an, die blonde,
rosige Lisa Arnold und der bleiche, stets kränkelnde Karl Werner, der nicht, wie
andere Knaben seines Alters, herumspringen konnte in Wald und Feld, sondern fast
immer an das Zimmer gefesselt war. Wohl fünfzehn Jahre mochte es her sein, daß
die hohe, schlanke Dame, die Witwe des im Kriege gefallenen Majors Arnold, mit
ihrem einzigen Töchterchen in das bescheidene Häuschen eingezogen war, welches dicht
neben der großen, prächtigen Villa des reichen Kaufmanns Werner stand. Damals
hatte der blasse, etwa zehnjährige Knabe zuerst das kleine Mädchen erblickt und er
konnte nicht müde werden, von seinem Krankenzimmer aus die reizende Kleine zu
beobachten, wie sie mit noch ungeschickten trippelnden Schritten im Nachbargärtchen
umherlief, mit den kleinen dicken Händchen alle Blumen abzupfend und durch ihre
drolligen Fragen und ihr herziges Geplauder dann ein Lächeln auf das Antlitz der
schwergeprüften, trauernden Frau hervorzaubernd.
Eines Tages hatte sie auch das blasse, ernsthafte Knabenantlitz hinter den
Fensterscheiben bemerkt und nachdem sie ungewöhnlich lange schweigend hinaufgeblickt
hatte, ihre Mutter gefragt:
„Mama, warum läuft und lacht der große Knabe nicht wie Lisa, warum spielt
er nicht in dem großen, schönen Garten?"
„Er ist krank, mein Kind, er kann nicht umherlaufen wie Du. er kann keine
Blumen pflücken und keine frohen Spiele machen," antwortete die Mutter.
Da harten sich die großen, eben noch lachenden blauen Kinderaugen mit Thränen
gefüllt und viel stiller als sonst hatte sie weiter gespielt; als sie aber Abends ihr
Nachtgebet gesprochen hatte, da bat sie leise: „Mütterchen, Lisa will dem kranken
Knaben Blumen bringen."
Seit jenem Abend hatte die Kleine keinen anderen Wunsch und keinen anderen
Gedanken.
Frau Arnold, die sehr zurückgezogen lebte, zögerte lange, ehe sie Lisa's Bitte
gewährte, denn es widerstrebte ihr, ungebeten das Haus des reichen Kaufmanns zu
betreten; aber Lisa bat, schmeichelte, weinte und flehte so lange, bis endlich die zärtliche
Mutter einwilligte, ihr Töchterchen in das Nachbarhaus zu bringen.
„Lisa will Dir Blumen bringen", hatte die Kleine gesagt und ihm leise die
mageren Hände gestreichelt. Da war ein so glückliches Leuchten über das schmale
Gesichteten des Knaben gegangen, daß Frau Arnold es nicht bereute, den Wunsch
ihres Kindes erfüllt zu haben. Unverwandt ruhten die großen, sehnsuchtsvollen
Augen bes Seibenben auf ber kleinen Gestalt, bie im weißen Kleibchen, bie runben,
nackten Aermchen mit ben Blumen fest an sich gebrückt, vor ihm stanb, ihn ganz
vergnügt anschaute unb unaufhörlich plauberte.