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positiven Religion auch in Lessing's Augen nur den Werth einer
nebensächlichen Erklärung haben; denn die Nothwendigkeit, wo
mit sie begründet wird, besteht in zufälligen Bedingungen. Der
menschliche Vertrag macht nicht, sondern befestigt nur das An
sehen der positiven Religion, die aus der Natur der menschlichen
Vernunft mit innerer Nothwendigkeit hervorgeht. Wenn in die
sem tiefern Verstände die Offenbarung so viel als die Entwick
lung oder die Erziehung des Menschengeschlechts ist, so bildet jede
positive Religion gleichsam eine Unterrichtsclasse in dieser großen
Schule der Weltgeschichte, so sind die Urkunden derselben gleich
sam die Elementarbücher dieses planmäßigen Unterrichts: sie sind
wie die guten Elementarbücher der jedesmaligen Fassungskraft
ihrer Zöglinge angemessen und darauf bedacht, diese Fassungs
kraft so weit zu befördern, daß der Zögling in eine höhere Classe
übergehen und ein Religionsbuch höherer Ordnung empfangen
kann. Der Zweck aber, den die göttliche Pädagogik im Men
schengeschlechte verwirklicht, kann kein anderer sein, als in dem
stufenmäßigen Fortschritt der positiven Religionen die Ausbildung
der Vernunstreligion zu bewirken. Die endliche Uebereinstim
mung der Offenbarung mit der Vernunft, der positiven Religion
mit der Vernunftreligion ist das Ziel, welchem die Menschheit
nach den ewigen Absichten göttlicher Weisheit entgegengeht. Ist
die christliche Religion die höchste positive, so müssen ihre Be
griffe, die Gottmenschheit, die Trinität, die Erlösung und Ge
nugthuung, in Vernunftlehren verwandelt werden, so muß sich
die Vernunft des Christenthums zuletzt zu dem Christenthume der
Vernunft aufklären. „Man wende nicht ein," sagt Lessing, „daß
dergleichen Vernünfteleien über die Geheimnisse der Religion un
tersagt sind. Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese
Dinge jemals Unheil gestiftet und der bürgerlichen Gesellschaft