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ohne deßhalb ungereimt zu sein und den Grundsätzen der Vernunft
selbst zu widersprechen. Der Horizont unserer Erfahrung ist be
schränkt. Es giebt mithin ein Jenseits der Erfahrung. Hier
können aus andern Bedingungen andere Thatsachen folgen, als
welche uns in der Natur gegeben sind, aber niemals können diese
Thatsachen den Gesetzen der Logik und Mathematik widerstreiten.
Das Uebervernünstige ist möglich; das Unvernünftige niemals.
Beide freilich sind unbegreiflich oder irrational, aber in sehr ver
schiedener Weise. Das Uebervernünstige ist unbegreiflich, weil
es von uns nicht begriffen werden kann. Das Widervernünstige
ist unbegreiflich, weil es überhaupt nicht begriffen werden kann.
Jenes ist göttlich; dieses ungereimt. Und so gilt der leibnizische
Satz: „das Uebervernünstige ist nicht widervernünftig*)."
6. Bayle und Tertullian.
Auf diesen Satz stützt sich die erste Aufgabe der Theodicee,
nämlich der Versuch, die natürliche Religion mit der geoffenbar
ten, den Glauben mit der Vernunft zu vermitteln, und in eben
jenem Satze liegt der Mittelpunkt der zwischen Leibniz und Bayle
geführten Streitfrage. In den neuen Versuchen über den mensch
lichen Verstand vertheidigt Leibniz gegen Locke, daß die Vernunft
und ihre Principien des Menschen ursprüngliche Geistesanlage
seien. In der Theodicee vertheidigt er gegen Bayle, daß die Re
ligion eine Sache der Vernunft sei und darum niemals zwischen
beiden ein unauflöslicher Gegensatz entstehen könne. Bayle wollte
den Gegensatz beider. Der Glaube sei mit der Vernunft niemals
in Uebereinstimmung zu bringen, er widerspreche der Vernunft,
wie diese dem Glauben. Das Uebervernünstige sei zugleich wider
*) Vgl. Theodicee. Discours de la conformite de la sei
avec la raison. Nr. 23. Op. phil. pg. 486.