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nicht vermocht haben, eine natürliche Moral, eine natürliche
Theologie begründen und so die Schätze heben, welche den eigent
lichen Reichthum der deutschen Aufklärung bilden, zugleich die
Tiefe und die Oberfläche dieser philosophischen Bildung des acht
zehnten Jahrhunderts. In jener Abhandlung, der wir mit Vor
liebe folgen (über das Wesen der Natur und die natürlichen
Kräfte und Handlungen der Dinge), sagt Leibniz: „der Zweck
begriff ist nicht bloß zur Tugend und Frömmigkeit in der Sit
tenlehre und natürlichen Theologie nützlich, sondern auch selbst
in der Physik, um deren verborgene Wahrheiten aufzufinden und
zu enthüllen*)." — „Anstatt die Zweckbegriffe auszuschließen,"
schreibt Leibniz an Bayle, „muß man vielmehr Alles daraus in
der Physik ableiten. Das hat schon Socrates im platonischen
Phädon mit bewunderungswürdiger Weisheit bemerkt, wenn er
gegen den Anaxagoras und die andern zu materialistisch gesinnten
Philosophen redet, die wohl einsehen, daß es ein intelligentes
Princip über der Materie geben müsse, dieses Princip aber in
ihrer philosophischen Welterklärung selbst nicht zur Anwendung
bringen. „„Das ist"" (sagt Socrates), „„als ob Jemand
von mir sagen wollte: Socrates sitzt im Gefängniß und erwar
tet den Giftbecher, er ist nicht fort zu den Böotiern oder andern
Völkern, wohin er sich hätte retten können! Warum? Weil er
Knochen, Muskeln, Sehnen hat, die sich so biegen können, wie
es nöthig ist, um zu sitzen'. Bei den Göttern! diese Knochen und
Muskeln würden nicht hier sein, wenn nicht meine Seele geur-
theilt hätte, daß es des Socrates würdiger sei, zu leiden, was
die Gesetze seines Vaterlandes befehlen**).""
*) De ipsa natura etc. Nr. 4. Op. pliil. pg. 155.
**) Extrait d’une lettre ä Mr. Bayle sur un principe gene
ral utile a l’explication des loix de la nature (1687). Op. phil.
pg. 106. Vgl. Lettre ä l’abbe Nicaise (1697) pg. 139.