Volltext: Die Lebensgeschichte Franz Stelzhamers 2. Theil [30] (II. Theil / 1932)

Der gesegnete Lebensherbst, als Hinterlage Reim und Prosa in Hochdeutsch. 283 
und unter der immer lauteren Wiederholung des letzteren Rling- 
klangs erhebt sich die jämmerliche Gestalt vom Boden, und hüpft 
und kreiselt im Stübchen herum, daß ein Laken um den andern von 
ihrem Leibe abfällt, und bis sie wirbelig und erschöpft niedertaumelt. 
Armes, armes Rind! beklagenswertes Mädchen! und seht, das 
hat ein heilloser Mensch angerichtet. 
Marie war neunzehn Jahre alt und ähnlich den Blumen, die 
auch im unfreundlichsten Mai dennoch aufblühen, war sie zwischen 
Dürftigkeit und plage, die sie mit ihren Eltern kindlich teilte und 
trug, zur reizendsten Gestalt herangewachsen. Ein stilles sittsames 
Wesen, das seinen Grund in einer angeborenen Schwermut und 
Frömmigkeit hatte, machte sie noch liebenswürdiger, wäre sie nicht 
arm gewesen, längst wäre ein wackerer Bursche der Umgegend als 
Buhle an ihr Fenster und dann als Freier in ihre Stube getreten; 
aber sie war es, und so stolzierten die meisten, wenn auch etwas 
lauter pfeifend und fingend in ihren Sonntagsgewändern an ihrer 
Schwelle, wo sie strickend oder nähend saß, vorüber und kaum einer 
würdigte sie eines freundlichen Grußes oder scherzhaften Zurufes. 
So war's mit Marie. 4 Da scholl eines Tages in später Nacht 
lockender Geigenklang an ihr Schlafkämmerlein. Sie hatte es schon 
träumend eine weile gehört, und Leserinnen, die einmal ein gleiches 
Glück gehabt, werden sich des wonnigen Zaubers erinnern, und 
wissen, daß man endlich vor süßreizender Empfindung erwachen und 
aufspringen und ans Fenster taumeln muß; aber besser wäre es, 
meine Lieben, ihr machtet es wie weiland Odysseus und ließet euch 
ans Bett fesseln, wie er sich an den Mast seines Schiffes binden 
ließ, um den singenden Sirenen nicht zur Beute zu werden. Euch rat' 
ich es; aber der Gedanke an die stille Marie erpreßt mir den 
Seufzer: O Marie, du frommes Rind! daß doch in jener Nacht 
dein schützender Engel nicht geschlummert und dich mit unsicht 
baren fänden ans Bett geschmiedet hatte, — doch der Engel 
muß schlummern, auf daß der Mensch wache und 
seine Tugend bewähre. 
Marie, die sittsame, schwermütige Marie, schoß an's offne 
Fenster, breitete die Arme weit von sich, als wollte sie das ent 
schwundene Traumbild erhaschen, — geradehin am Himmel stand 
der Helle Mond und zuckte wie im Focus auf ihrem holden Angesicht 
zusammen, rechts stand ein großer majestätischer Stern, und spann 
sein Strahlengewebe um ihre bloßen Arme, und knüpfte sich fest am 
blendenden Nacken der Jungfrau; da jauchzten des jungen Spielmanns 
Saiten alle zusammen in einen betäubenden Jubelakkord, und dann 
sang jede ein absonderliches Liebeslied, daß Marien das Herz im 
Leibe hüpfte, und der starre Verstand im Ropfe schwankte. 
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