Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Erster Theil] (8,1 / 1901)

Das Reich der Sittlichkeit und der Rechtszustand. 375 
durch nichts zu ersetzender Verlust. Die Eltern sind das unaufhaltsam 
vergehende Geschlecht, nichts kann sie dauernd erhalten; Kinder können 
ersetzt werden, denn sie sind das unaufhaltsam sich erneuende Geschlecht, 
aber der Bruder ist für die Schwester unersetzlich. „Das unvermischte 
Verhältniß findet zwischen Bruder und Schwester statt. Sie sind 
dasselbe Blut, das aber in ihnen in seine Ruhe und Gleichgewicht 
gekommen ist. Sie begehren daher einander nicht, noch haben sie dies 
Fürsichsein einer dem andern gegeben, noch empfangen, sondern sie 
sind freie Individualitäten gegeneinander. Das Weibliche hat daher als 
Schwester die höchste Ahnung des sittlichen Wesens; zum Bewußt 
sein und der Wirklichkeit desselben kommt es nicht, weil das Gesetz 
der Familie das ansich seiende innerliche Wesen ist, das nicht am 
Tage des Bewußtseins liegt, sondern innerliches Gefühl und das der 
Wirklichkeit enthobene Göttliche bleibt. An diese Penaten ist das Weib 
liche geknüpft." „Der Verlust des Bruders ist der Schwester unersetz 
lich und ihre Pflicht gegen ihn die höchste." 1 
Wenn nun die Staatsgewalt in der Person des Herrschers diesen 
Bruder, der für sein Familienrecht im Kampfe gegen den Staat ge 
fallen ist, den wilden Thieren zunl Fraße hinwirft und um die letzte 
Ehre straft, so wird die Schwester, die sich als solche fühlt und 
ihrem Wesen entspricht, nicht einen Augenblick zögern und ihre 
heilige Pflicht erfüllen, indem sie den todten Bruder bestattet. So 
handelt die Antigone des Sophokles, aus deren That und Schuld 
die Tragödie hervorgeht, welche Hegel stets für die größte und voll 
kommenste aller Tragödien erklärt hat. 
3. Der tragische Conflict. Die Schuld und das Schicksal. 2 
Die beiden Grundgesetze der sittlichen Welt sind einander weder 
entgegengesetzt noch fremd, sondern hängen dergestalt zusammen, daß 
das menschliche Gesetz von dem göttlichen, das auf Erden geltende von 
dem unterirdischen, das bewußte von dem bewußtlosen ausgeht und 
ebenso dahin zurückkehrt, von wo es ausging; sie haben an Familie 
und Volk ihre Wirklichkeit, an Mann und Frau ihr natürliches Selbst 
und ihre bethätigende Individualität. „Das sittliche Reich ist auf 
diese Weise in seinem Bestehen eine unbefleckte, durch keinen Zwiespalt 
* Ebendas. S. 330 u. 331. — 2 „Die sittliche Handlung, das menschliche 
und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal." S. 335—348.
	        
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