Die thätige Vernunft und das Reich der in sich befriedigten Individuen. 355
lebendiger Geist, worin das Individuum seine Bestimmung, d. h.
sein allgemeines und eigenes Wesen, nicht nur ausgesprochen und als
Dingheit vorhanden findet, sondern selbst dieses Wesen ist und seine
Bestimmung auch erreicht hat. Die weisesten Männer des Alterthums
haben darum den Ausspruch gethan: daß die Weisheit und die
Tugend darin bestehen, den Sitten seines Volks gemäß zu
leben."*
Das Ziel, auf welches wir lossteuern, ist der sittliche Geist, die
jenige Einheit der selbstbewußten Individuen, welche Hegel geru und gut
die „gediegene Einheit" nennt. Aber das Selbstbewußtsein ist nicht
zu binden. Es ist vorauszusehen, daß auch diese gediegene Einheit
sich auflösen und zersetzen wird, woraus neue Gestalten des Bewußt
seins hervorgehen. Wir unterscheiden demnach: 1. diejenigen Gestalten
des Bewußtseins, welche dem sittlichen Geist vorausgehen, den Uebergang
zu ihm bilden und die Stationen der thätigen Vernunft ausmachen;
2. den sittlichen Geist selbst; 3. diejenigen Gestalten des Bewußtseins,
welche aus ihm hervor- und über ihn hinausgehen. Dieses sind die
noch auszuführenden Themata der Phänomenologie?
II. Die thätige Vernunft.
1. Die Lust und die Nothwendigkeit. (Faust.)
Es gab ein zwischen Jenseits und Diesseits stets getheiltes, in
sich entzweites und gebrochenes, darum in Wahrheit unglückliches Be
wußtsein. Im völligen Gegensatze dazu giebt es ein wahrhaft glück
liches Bewußtsein: es besteht in jener gediegenen Einheit des sittlichen
Geistes, worin jeder Einzelne als Glied sich wohl und befriedigt fühlt.
Dieses Glück wird gesucht, erreicht und wieder verloren. Ein Anderes sind
die Gestalten des Bewußtseins nach dem Verlust, ein Anderes vor der
Erreichung: diese letzteren gehen den Weg, der vor uns liegt. Alle Ge
stalten der thätigen Vernunft suchen instinctmäßig in der Welt Glück
und Befriedigung: darin besteht ihr gemeinsames Thema. Daß sie
dieses Ziel, jede auf ihrem Wege, verfehlen: darin besteht ihre Welt
erfahrung. Auf jeder dieser Stufen finden wir die selbstbewußte Indi
vidualität im Gegensatze zur Welt und in vermeintlicher Erhabenheit
über dieselbe ihre volle Selbstbefriedigung suchen und verfehlen. In
dieser ihrer vermeintlichen Erhabenheit liegt die Selbsttäuschung. Darin.
1 Phänomenologie. Werke. II. S. 257 u. 258. — 2 Ebendas. S. 254—262.
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