Die digitale Landesbibliothek Oberösterreich

Die kleineren Zentren bis 1900 
236 
faire Dreyfus“ (1896), in der er nachdrücklichst erklärte, daß der 
Generalstab über keinerlei echte, gegen Dreyfus sprechende Doku 
mente verfüge und daß schon allein die Beeinflussung des Gerichts 
durch derlei Apokryphen hinter dein Rücken des Angeklagten ein 
Amtsverbrechen gewesen sei. Nunmehr ging auch vielen Politikern 
ein Licht auf. Unvoreingenommene Parlamentsmitglieder und Publizi 
sten setzten sich zum Ziel, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, 
einer Wahrheit, die den Leitern des Kriegsressorts und der reaktio 
nären Parteien recht unangenehm zu werden drohte. So entbrannte 
denn im Parlament, in der Presse und im öffentlichen Leben über 
haupt ein heftiger Kampf, in dem den judenfeindlichen Chauvini 
sten auf der einen Seite die Parteigänger der Revision des Landes- 
verratsprozesses, die „Dreyfusards“ oder Revisionisten, auf der an 
deren Seite gegenüberstanden. 
Ein ganzes Triennium lang (1896—1899) bildete die Dreyfus- 
Affäre („l’Affaire“) das Zentralproblem der französischen Politik, 
und der Kampf um die Rehabilitation des jüdischen Hauptmanns 
wuchs sich zu einem prinzipiellen Streit zwischen Republikanern und 
Reaktionären, zwischen den Vertretern der Humanitätsidee und den 
engherzigen „Nationalisten“ aus. Je nach der Wendung, die die Af 
färe nahm, kamen und gingen die Ministerkabinette, wobei am häu 
figsten die Kriegsminister wechselten. Auf die Aufrechterhaltung des 
Ansehens ihres Ressorts bedacht, standen die einander ablösenden 
Kriegsminister nicht an, Lüge auf Lüge zu häufen. Von der Schuld 
Esterhazys überzeugt, wollten sie indessen seine Verurteilung nicht 
zulassen, da sonst alle im Prozeß Dreyfus angewandten Schliche und 
Kniffe an den Tag gekommen wären. Die Antidreyfusards setzten da 
her das Gerücht in Umlauf, daß Esterhazy ein Opfer jüdischer Ränke 
sei, daß man ihn in die Affäre nur zu dem Zwecke hineingezogen 
habe, um einen Juden reinzuwaschen. Dies ermöglichte den Militär 
behörden, die Untersuchung gegen Esterhazy so zu führen, daß der 
notorische Verräter, in Mißachtung aller Garantien objektiver Recht 
sprechung, vom Gericht freigesprochen wurde (Januar 1898). Gegen 
diese schmachvolle Politik trat nun einer der volkstümlichsten Schrift 
steller Frankreichs, der Meister des sozialen Romans, Emile Zola, in 
die Schranken. Er veröffentlichte in Form eines offenen Briefes an 
den Präsidenten der Republik Faure einen scharfen Zeitungsartikel 
mit der Überschrift: „J’accuse“ („Ich klage an“), in dem er die Mi