Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

Die kleineren Zentren bis 1900 
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Interessenkonflikt mit verschiedenen Schichten der in die zwei feind 
lichen Lager der Muselmanen und Christen gespaltenen Bevölkerung 
verwickelt, waren die algerischen Juden stets einem doppelten Druck 
ausgesetzt ünd wurden in Zeiten politischer Wirren von Pogromen 
nach klassischem russischem Vorbild heimgesucht. Der Judenhaß, der 
sich in Paris in das Modegewand des Antisemitismus kleidete, kam 
eben in Algerien in Formen zum Ausdruck, die sich der patriarcha 
lischen Landessitte anpaßten. 
Die sich von Berlin und Wien her ausbreitende antisemitische 
Seuche hatte auf Paris bereits zu Beginn der achtziger Jahre über 
gegriffen. Die Pariser Straßen hallten plötzlich von den neuaufge- 
tauchten, dem französischen Ohr zunächst fremd klingenden Zeitungs 
namen: „L'Anti-Juif“ und „L’Antisemitique“ wieder. Die Devise dieser 
1882—1883 herausgegebenen Hetzblättchen lautete: „Le juif — voilä 
Pennerin“ („Der Jude — das ist der Feind“). Während der Krise der 
erwähnten katholischen Bank auf das Betreiben der klerikalen Ge 
schäftemacher zur Bekämpfung ihres Rivalen Rothschild gegründet, 
waren die französischen antisemitischen Blätter noch schlimmer als 
ihre deutschen Vorbilder: falsche Berichterstattung verband sich bei 
ihnen mit ostentativer Geschichtsfälschung; ihre Mitarbeiter, Obsku 
ranten und Schwindler, spielten sich als Liberale, ja als Sozialisten 
auf, verstanden sich aber auf die Verstellungskunst bei weitem nicht 
so gut wie die Urheber des „christlichen Sozialismus“ in Deutschland 
und Österreich. Die für den Boulevard-Pöbel berechnete Hetzpropa 
ganda war freilich viel zu vulgär, um die gebildeten Kreise in ihren 
Bann ziehen zu können. Anfang i883 trat der antisemitischen Rassen 
theorie der angesehenste Denker Frankreichs, Ernest Renan, mit einer 
öffentlichen Vorlesung („Das Judentum als Rasse und Religion“) 
entgegen, in der er darauf hinwies, daß die Diasporajudenheit be 
reits im Altertum infolge der fortgesetzten Aufnahme fremdartiger 
Elemente ihre Rassenreinheit eingebüßt habe, so daß die Juden nun 
mehr nur durch das Band ihrer Religion zusammengehalten würden, 
einer Religion, die das historische Verdienst für sich in Anspruch 
nehmen könne, durch den Mund der alten Propheten „das Christen 
tum vor Christus“ gepredigt zu haben. Da diese Anerkennung des 
historischen Wertes des modernen Judentums die völlige Negation 
seines nationalen Charakters in sich schloß, konnten die assimilierten 
Pariser Juden Renan, der dem vorherrschenden Dogma wissenschaft
	        
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