Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

Einleitung 
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zum Betrieb eines neuen Geschäftes ausschließlich Absolventen der 
Normalschulen erteilt werden, wobei zugleich die Verfügung getrof 
fen wurde, daß sämtliche Geschäftspapiere von diesem Zeitpunkt ab 
in deutscher oder ungarischer, keineswegs aber in hebräischer oder 
gar jüdisch-deutscher Sprache abgefaßt werden sollten. Diese kul 
turelle Bevormundung kam mitunter in recht grotesken Formen zum 
Ausdruck. So gehörte zu den allerhöchst verordneten „Reformen“ 
auch die Vorschrift, daß die Juden sich den Bart rasieren mußten. 
Da diese Vorschrift im Widerspruch zur jüdischen Sitte stand, unter 
breiteten die rechtgläubigen Juden dem Kaiser alsbald eine Supplik, 
in der sie unter Berufung auf die proklamierte Gewissensfreiheit um 
die Erlaubnis baten, auch fernerhin einen Bart tragen zu dürfen 
(1783). Die Bitte wurde erhört, und so zeigte sich der Gebieter Öster 
reichs nachgiebiger als der Preußenkönig Friedrich II., der bezüglich 
der Bedeutung des jüdischen Bartes einen direkt entgegengesetzten 
Standpunkt einnahm und daher das Rasieren den freidenkerischen 
Berliner Juden förmlich untersagte (oben, § 2). 
§ 4. Polen nach der ersten Teilung 
Am Vorabend der dem europäischen Westen beschiedenen politi 
schen Krise war das große jüdische Zentrum in Polen der Zersetzung 
anheimgefallen. Es war dies die Zeit zwischen der ersten und zwei 
ten Teilung des polnischen Reiches, zwischen 1772 und 1793. Die 
Nachbarländer hatten bereits an dem siechen Reichsorganismus die 
erste Vivisektion vorgenommen: Rußland trennte das weißrussische 
Gebiet ab, Österreich das galizische Land, Preußen einen Teil der 
Provinz Posen. Damit verfiel auch der festgefügte Organismus der 
polnischen Judenheit der Zerstückelung. Ein Teil dieser eine Sonder 
existenz führenden Masse wurde unerwartet zum Gegenstand der re- 
formatorischen Experimente Josephs II.; der andere sah sich in den 
Kasernenstaat Friedrichs II. versetzt, wo die jüdische Bevölkerung 
der ehemals polnischen Provinzen nur als ein unausrottbares Übel 
geduldet wurde; der dritte geriet unter die Herrschaft Rußlands, dem 
selbst die Handvoll der in der kleinrussischen Mark ansässigen Juden 
von jeher ein Dorn im Auge war. Das nach der Operation im Jahre 
1772 stark zusammengeschmolzene polnische Zentrum der Judenheit 
hatte schwer unter der Agonie des Reiches zu leiden, dem noch zwei
	        
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