Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

Das neue Zentrum in Rußland 
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verleihen. Den Juden wurden alle russischen Elementar-, Mittel und 
Hochschulen zugänglich gemacht und überdies wurde ihnen das Recht 
zuerkannt, eigene, allgemeine Bildung vermittelnde Lehranstalten zu 
gründen, in denen eine von den drei Sprachen: die russische, polnische 
oder die deutsche obligatorisches Unterrichtsfach sein mußte. In einer 
dieser drei Sprachen sollten nach Ablauf einer bestimmten Frist 
(2—6 Jahre) auch alle öffentlichen Urkunden, wie etwa Wechsel 
u. dgl. ausgestellt sowie die Geschäftsbücher geführt werden. Ferner 
wurde die Beherrschung einer dieser drei Sprachen in Wort und 
Schrift für die jüdischen Anwärter auf ein Magistratsamt sowie auf 
das eines Rabbiners oder Kahalmitglieds obligatorisch gemacht; die 
jüdischen Magistratsmitglieder wurden überdies verpflichtet, Klei 
dung von polnischem, russischem oder deutschem Schnitt zu tragen. 
Dieses Aufklärungsprogramm war der Tribut, den die russische Re 
gierung der westeuropäischen, die jüdische Sprache im öffentlichen 
Leben und in der Schule ächtenden Assimilationsidee gezollt hatte, 
doch bedeutete diese Ächtung einer nach vielen Hunderttausenden 
zählenden, jüdisch sprechenden und schreibenden Masse gegenüber 
eine Ungereimtheit. Alles in allem stellte das zweifelsohne von refor- 
matorischem Geiste erfüllte Gesetz des Jahres i8o4 eine verbesserte 
Ausgabe des für Galizien erlassenen „Toleranz-Patentes“ vom Jahre 
1789 dar. Dem Statut lag jenes System der „mit den Machtmitteln 
der Regierung durchgeführten Reformen“ zugrunde, vor dem Spe- 
ranskij vergeblich gewarnt hatte. Dieses System bedeutete den gewalt 
samen Umsturz der im Laufe von Jahrhunderten gewachsenen Lebens 
ordnung und kam einerseits in härtesten Unterdrückungsmaßnahmen, 
andererseits in erfolglosen Yerbesserungsversuchen zum Ausdruck. 
§ 47. Die Folgen des Gesetzes von 180U: die Vertreibung aus den 
Dörfern 
Das Gesetz von i8o4, das den jüdischen Massen für die Zukunft 
imaginäre Wohltaten verhieß, brachte ihnen zunächst nichts als reales 
Elend. Die Aussicht auf die verheißenen Wohltaten, deren Ver 
wirklichung von der Erschütterung der Eckpfeiler der nationalen 
Eigenart: von Sprache, Schule und Gemeindeautonomie, abhängig ge 
macht worden war, mußte den von westlichen Strömungen noch kaum 
berührten russischen Juden wenig verlockend erscheinen. Mit um so
	        
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