Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

§ 30. Die Reformen in Preußen und das Edikt von 1812 
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Eigentümlichkeiten der jüdischen Lebensführung loszuwerden, die als 
Ausdrucksformen nationaler Absonderung aufgefaßt werden konnten. 
Seit langem schon hatte hier die Gesinnung des Pariser Synhedrions 
Schule gemacht, doch ging man in Berlin noch viel weiter: unter den 
Berliner Juden begann nämlich der Plan religiöser Reformen an Bo 
den zu gewinnen, der weniger berechtigtem Freidenkertum als dem 
Begehren entsprang, das Judentum der ihm fremden Umgebung an 
zupassen. So nahm denn der im Kampfe um die Emanzipation er 
graute David Friedländer, vom nun errungenen Siege berauscht, kei 
nen Anstand, der Regierung bei der Umgestaltung des jüdischen reli 
giösen Lebens seine Dienste anzubieten. Bald nach der Veröffent 
lichung des Edikts vom Jahre 1812 gab er anonym eine Schrift mit 
dem Titel heraus: „Über die durch die neue Organisation der Juden- 
schaften in den Preußischen Staaten notwendig gewordene Umbil 
dung 1. ihres Gottesdienstes in den Synagogen, 2. ihrer Unterrichts 
anstalten und deren Lehrgegenstände und 3. ihres Erziehungswesens 
überhaupt. Ein Wort zu seiner Zeit“. Der Verfasser ging von dem 
Gedanken aus, daß ohne Reformierung des synagogalen Lebens und 
des Unterrichtswesens die heranwachsende Generation nicht in der 
Lage sein würde, die verliehenen bürgerlichen Rechte voll auszu- 
nützen: „Ohne eine andere kirchliche Einrichtung — meinte er — 
würden die Israeliten nicht fortdauern, und die Entwicklung ihrer 
Kräfte könnte mit ihrem besten Willen nicht stattfinden“. Die ihm 
zeitgemäß erscheinenden Reformen sollten aber im wesentlichen auf 
folgendes hinauslaufen: Vor allem sei das alt überlieferte Gebetbuch, 
das eine Menge von den Verlust der alten Heimat des jüdischen Vol 
kes und seiner politischen Freiheit betrauernden Hymnen enthalte, 
einer gründlichen Revision zu unterziehen, da die preußischen Juden, 
zu Staatsbürgern geworden, nunmehr auch im Besitze der Freiheit 
seien. Auch hätten sie nur noch ein einziges Vaterland, das preußische, 
für das allein sie beten dürften, und eine einzige Muttersprache, die 
deutsche; diese gelte es ohne Aufschub für den Gottesdienst einzu 
führen, weil sie eher dazu angetan sei, in der Seele religiöse Gefühle 
wachzurufen als die tote hebräische Sprache. Im gleichen Geiste 
durchgreifendster Germanisierung sollte zugleich die Schule umge 
staltet werden. Mit aller Unzweideutigkeit ward so die These formu 
liert: die zwangsläufige Folge der Emanzipation ist die Assimilation. 
Friedländer versäumte nicht, die Schrift als Reformentwurf sei
	        
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