Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 61. Das jüdische Schrifttum 
Freund besaßen. Als nach dem Tode der beiden Dichter einer ihrer 
Gegner sich dahin äußerte, daß sie wegen ihres Freidenkertums 
sicherlich in der Hölle schmachteten, erwiderte ihm Bosone, wenn 
Dante wie „Manoello“ das Fegefeuer auch nicht erspart geblieben sein 
mochte, sei ihnen nach der Läuterung das Paradies dennoch sicher. 
Von den drei in italienischer Sprache erhalten gebliebenen Sonet 
ten des Immanuel sind zwei besonders für seinen politischen Indiffe 
rentismus bezeichnend, der ihn von dem mitten im Strudel der poli 
tischen Leidenschaften stehenden Dante so kraß unterscheidet: 
„Nichts liebe ich — heißt es da — und verachte auch nichts. In Rom 
bin ich bald den Golonna, bald den Orsini (zwei miteinander um die 
Macht kämpfende Patriziergeschlechter) Freund und gebe bald jenen, 
bald diesen den Vorzug. Ich juble den Erfolgen der Welfen zu, kom 
men sie aber zu Falle, so ergreife ich für die Ghibellinen Partei“. Im 
dritten dieser Sonette trägt der Dichter auch religiösen Indifferentis 
mus zur Schau und spricht mit aller Leichtfertigkeit aus, daß er, 
wenn neben Moses und Aaron Petrus und Paulus und Mohammed mit 
der Predigt ihrer Lehren vor ihm erscheinen würden, ratlos wäre, 
wem er folgen sollte, „welches der Weg der Heiligkeit und welches 
der der sündhaften Welt“ sei. Es war dies allerdings nichts als dich 
terischer Übermut: in Wirklichkeit blieb Immanuel stets dem tra 
ditionellen Judaismus treu, wie dies aus seinen Bibelkommentaren, 
ja aus vielen Stellen seiner dichterischen Schriften ersichtlich ist. Daß 
er auch in seinem alltäglichen Wandel keineswegs jener Wüstling 
und Lebemann war, als welchen man sich den Verfasser der „Mach- 
beroth“ wohl vorstellen könnte, beweisen die zahlreichen didaktischen 
Gedichte, die in diesem Buche neben frivoler Erotik Platz finden. 
Sind doch hier sogar tiefempfundene, im Stile der Psalmen gehaltene 
synagogale Lieder eingestreut. Trotzdem war Immanuel bei der stren 
gen Orthodoxie ob seiner „Unkeuschheit“ so sehr verrufen, daß auch 
die rabbinische Nachwelt für seine Schriften nichts als Tadel übrig 
hatte. 
In viel schärferer Ausprägung tritt uns die soziale Satire in den 
Prosawerken des provenzalischen Schriftstellers Kalonymos ben Ka- 
lonymos (1286—i34o) entgegen. Aus Arles gebürtig und durch die 
Verfolgungen des Jahres i3o6 zu einem unsteten Wanderleben ver 
urteilt, traf der hochgebildete Kalonymos in Avignon mit dem 
Freunde der Wissenschaften Robert von Anjou, dem König von 
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