Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

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Italien zur Zeit der Frührenaissance 
auf die Opferung von zweihunderttausend spanischen und hundert 
tausend sizilianischen Juden, nicht .verzichten. Die einzige zugestan 
dene Erleichterung war die Verlängerung der Gnadenfrist bis zum 
Dezember 1492. Gegen Ausgang des Jahres verließen alle Juden mit 
Ausnahme der zum Christentum Übergetretenen die Insel; es war 
ihnen gestattet, nur das Allernotwendigste mit sich auf den Weg zu 
nehmen, während ihr sonstiger Besitz dem Reichsschatz zufiel. Die 
Vertriebenen begaben sich zunächst nach Neapel, Apulien und Ka 
labrien. Als aber diese Gebiete bald darauf von dem vereinigten spa 
nisch-französischen Heere überflutet wurden und im Jahre i5o5 
auch Neapel den Spaniern in die Hände fiel, sahen sich die Auswan 
derer genötigt, sich von dem süditalienischen Boden endgültig loszu 
reißen. Ein Teil von ihnen zog nach dem Norden, andere wieder 
wandten sich nach der Balkanhalbinsel, nach dem neuerblühten Tür 
kenreiche. Sie begründeten in Konstantinopel, Saloniki, Adrianopel, 
Patras, Larissa und anderen Städten mit vorwiegend griechischer Be 
völkerung, die sie schon aus ihrer Heimat gut kannten, bedeutende, 
festgefügte Gemeinden. So brachte auch Italien dem an der Grenz 
scheide der Neuzeit wütenden Moloch ein ansehnliches Opfer dar: das 
ihm zu Ehren zerstörte uralte sizilianische Diasporazentrum sollte 
bis ins XIX. Jahrhundert hinein in Schutt und Asche liegen. 
§ 61. Das jüdische Schrifttum in der Epoche der italienischen 
Renaissance 
Zugleich mit den ersten Anfängen der italienischen literarischen 
Renaissance erlebte in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts auch 
das jüdische Schrifttum in Italien eine Zeit der Wiedergeburt. Diese 
Wiedergeburt war das Ergebnis einer zwiefachen Beeinflussung, die 
zum Teil vom italienischen Lande selbst, zum Teil von der Provence 
ausging. Einerseits stand nämlich das geistige Leben der italienischen 
Judenheit unter der Einwirkung neu zuströmender literarischer 
Schaffenskräfte aus der französischen Provence, von wo aus seit der 
im Jahre i3o6 erfolgten Vertreibung eine ununterbrochene Auswan 
dererbewegung nach Italien im Gange war; andererseits machte sich 
aber auch der frische Luftzug des Zeitalters eines Dante, Petrarca 
und Boccacio, der atmosphärische Druck der freien Gedankenströ 
mungen bemerkbar, denen sogar die Mauern der Judenviertel kein
	        
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