Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Das französische Zentrum und die englische Kolonie 
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wurde, ließen es sich die bereits versammelten Scharen nicht nehmen, 
jedesmal vor der Heimkehr ihren Kriegsfuror an den Juden auszu 
lassen. Im Sommer desselben Jahres 12 36, als die Gemeinden von 
Narbonne in Gefahr schwebten, zogen zügellose Kreuzfahrerbanden 
mordend und plündernd durch Bordeaux, Anjou, Poitou und andere 
Städte. Nur wenige Juden suchten in der Scheintaufe Rettung, 
während die Mehrzahl heldenmütig den Märtyrertod erlitt; manche 
legten gleich den rheinischen Märtyrern des ersten Kreuzzuges selbst 
Hand an sich. Etwa 3ooo Juden wurden in diesem grauenvollen Som 
mer ermordet oder verstümmelt 1 ). Sogar Papst Gregor IX. vermochte 
sich der an ihn ergangenen „flehentlichen Bitte der in Frankreich 
lebenden Juden“ um Schutz gegen die Kreuzträger nicht zu verschlie 
ßen. In einem Sendschreiben an den Bischof von Bordeaux und an die 
Kirchenfürsten der anderen heimgesuchten Städte erinnerte er sie dar 
an, daß das Judentum weder auf dem Wege der Vernichtung noch 
mit dem Mittel der gewaltsamen Taufe bekämpft werden dürfe, um 
so mehr als die Juden ohnehin in „einer neuen ägyptischen Knecht 
schaft“ („sub nova Egyptiaca servitute“) schmachteten — ein Ge 
ständnis, das im Munde des Hauptes der christlichen Kirche besonders 
schwerwiegend erscheint. 
§ 4. Religiöse Disputationen und die Verbrennung des Talmud; 
die Opfer der Inquisition 
Das Zeitalter tiefgreifender religiöser Gärung und kühner Neuerer 
innerhalb des Christentums rief im Volke eine noch nie dagewesene 
Vorliebe für religiöse Disputationen wach. Schon die Lehren der Wal 
denser und Albigenser, die die den Juden am meisten widerstrebenden 
Dogmen des Christentums ablehnten, waren nicht zuletzt durch jene 
leidenschaftlichen Wortkämpfe beeinflußt, deren Gegenstand gerade 
diese Fragen bildeten und die von jeher zwischen Juden und Christen 
geführt wurden. In der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts, in der 
Zeit der höchsten Blüte der „Irrlehren“ in Südfrankreich, wurden 
1 ) In den jüdischen Quellen wird die Katastrophe nur in einer kurzen Notiz 
der Chronik „Schebet Jehuda“ (im Anhang mit falscher Datierung: 1219) er 
wähnt, doch erfahren wir Genaueres darüber aus dem Sendschreiben des Papstes 
Gregor, das mit den Worten: „Lacrimabilem Judaeorum . . . recepimus quaestio- 
nem“ beginnt (S. Raynaldus, Annales ecclesiastici s. a. 12 36 und unten in der 
Bibliographie).
	        
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