Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen 
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allein das Kirchengerät nicht als Pfand genommen werden durfte. 
Überdies versprach er, jeden wegen eines zivilrechtlichen Delikts ver 
hafteten Juden über den Sabbat oder die Feiertage unter der Bedingung 
freizulassen, daß sich der Häftling nach Ausgang des Festtages selbst 
stelle. Der Kirchenfürst wetteiferte somit ganz unverhohlen mit seinem 
weltlichen Nachbar, dem Vizegrafen von Narbonne, der den Juden ihre 
Freiheiten schon früher verbrieft hatte. Nicht selten kam es zwischen 
den beiden Herrschern zu Kompetenzstreitigkeiten, deren Gegenstand 
die aus einem Stadtteil in den anderen übersiedelnden Mitglieder der 
jüdischen Gemeinden bildeten; solche Streitigkeiten pflegten häufig 
durch Abschluß schriftlicher Verträge zwischen den rivalisierenden 
Parteien beigelegt zu werden. Den Juden von Narbonne konnte aber 
die Rivalität ihrer Beschützer nur zum Vorteil gereichen. 
Zuweilen hatten die auf den seigneurialen Besitzungen lebenden Ju 
den ihren Schutzherren auch die Abwendung schwerster Gefahren zu 
verdanken. So geschah es im Jahre 12 36 in Narbonne, daß ein Jude 
im Streite mit einem Fischerknaben sich an diesem vergriff und ihn 
schwer verletzte. Der an das Lager des Verwundeten gerufene christ 
liche Arzt konnte oder wollte ihn nicht kurieren und der Knabe er 
lag seinen Verletzungen. Dieser Vorfall rief in der Stadt die größte 
Erregung hervor. Der durch Glockengeläut alarmierte Mob stürzte 
sich auf die Häuser der Juden, schlug die Türen ein, mißhandelte und 
plünderte die Hausbewohner. Mittlerweile begaben sich die Mitglieder 
des Stadtrats, die Konsuln, zum Palast des Vizegrafen Aimery IV. und 
forderten Sühne für den ermordeten Christen. Der Vizegraf, der von 
barbarischen Vorurteilen frei war und in der Ermordung des Fischers 
nichts als einen unglücklichen Zufall erblickte, zögerte indessen nicht, 
den Juden zu Hilfe zu eilen. Er ließ einen Heerestrupp gegen die Plün 
derer vorrücken, der sie von dem jüdischen Viertel zurückschlug, und 
befahl, die geplünderte Habe den Eigentümern zurückzuerstatten. Zur 
Erinnerung an die Errettung aus der großen Gefahr wurde der be 
treffende Tag von der Gemeinde in Narbonne zu einem alljährlichen 
Festtag erhoben (der 21. Adar, acht Tage nach Purim, darum „Nar- 
bonnensisches Purim“ genannt). 
Völlig machtlos standen hingegen die Ortsbehörden den Überfällen 
der Kreuzfahrer gegenüber, die in Frankreich unter Ludwig IX. 
mehrmals für einen Feldzug nach dem Orient angeworben wurden. 
Da der geplante Feldzug immer wieder auf gegeben oder auf geschoben
	        
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