Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen 
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tigen Königs stellten, ist aus der uns überlieferten Rede eines dama 
ligen Rabbiners zu ersehen, die, obwohl allem Anscheine nach apo 
kryph, nichtsdestoweniger die Stimmung der französischen Juden in 
der Regierungszeit Ludwigs des Heiligen wahrheitsgetreu widerspie 
gelt. Es wird nämlich erzählt, daß einer der königlichen Erlasse über 
die Nichtigkeitserklärung jüdischer Schuldforderungen namentlich im 
Bezirk von Narbonne große Erregung hervorrief. Die Vertreter der 
dortigen jüdischen Gemeinde traten darauf zusammen, um über die 
schwierige Lage zu beraten. Auch der Provinzialstatthalter, den die 
Einmischung des Königs in die Angelegenheiten der autonomen Pro 
vinz verstimmt hatte, wohnte der Versammlung bei. Hier eben soll 
der Rabbiner von Narbonne Meir ben Simon, ein bekannter Apologet 
und Streitredner, mit der erwähnten Rede hervorgetreten sein 1 ). Der 
Redner wies auf die Vorrechte hin, die den Juden von den franzö 
sischen Königen seit der Zeits Karls des Großen eingeräumt zu werden 
pflegten, und erinnerte zugleich an die von den Juden diesem Herr 
scher in seinem Kampfe mit den Arabern um den Besitz von Narbonne 
erwiesenen Dienste. Heute aber — so fuhr R. Simon fort — sind d.ie 
Juden durch die ungerechten Maßnahmen des Königs Ludwig in eine 
prekäre Lage versetzt. Man verbietet ihnen, aus dem Lande eines Sei 
gneurs in das eines anderen zu ziehen — was sollen aber diejenigen 
beginnen, die an ihrem Wohnorte keine Erwerbsquellen finden? Bei 
der Übersiedlung aus einer Stadt in die andere wird ihnen am Stadt 
tore ein besonderer Eingangszoll abgenommen. Der König hat die 
Statthalter angewiesen, den Juden bei der Eintreibung von Schulden 
bei Christen keinerlei Beistand zu leisten, während doch die Juden 
gezwungen sind, ihren christlichen Gläubigern die Schulden voll zu 
rückzuzahlen. Man verbietet den Juden, Geld auf Zinsen oder ,,mit 
Nutzen“ auszuleihen, ohne zwischen übermäßigem „Wucher“ (usurae) 
und rechtmäßiger Kapitalrente einen Unterschied zu machen, die we 
der von der Bibel noch von den christlichen Kaisern unter Verbot 
gestellt wurde. Und doch können weder die Juden, die zu den anderen 
Berufen keinen Zutritt haben, noch auch die häufig auf Darlehen an- 
Ü Diese Rede hat sich in dem „Milchemeth mizwa“ betitelten Werke des 
R. Meir erhalten, das einen Dialog zwischen einem Juden und einem Christen so 
wie andere theologische Erörterungen enthält. Sie ist auf Grund des in der Biblio 
thek von Parma aufbewahrten Manuskriptes in ,,Les rabbins frangais“ von Renan 
und Neubauer sowie in anderen Quellen wiedergegeben, auf die unten in der 
Bibliographie des näheren hingewiesen ist.
	        
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