Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Zerstörung des französischen Zentrums 
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rationalistischen Schlußfolgerungen nicht zurück, weshalb auch er 
als zügelloser Freidenker verschrien wurde. In seinem „Buche der 
Moral“ („Sefer ha’mussar“), das in Form eines Vermächtnisses an 
seinen Sohn gehalten ist, äußert sich Kaspi dahin, daß „die Wahr 
heit weder schüchtern noch verschämt sein dürfe“, eine Regel, an 
der er selbst in seinen Schriften unentwegt festhielt. So nahm er 
keinen Anstand, sich in folgender Weise zu äußern: „Gott oder Moses 
in Seinem Geiste haben es in der Thora auf gezeichnet“; „Es steht 
geschrieben: ,Ich werde einen Engel vor dir hersenden' — unter dem 
Engel ist hier die tätige Vernunft zu verstehen“. Die individuelle 
Vernunft des Menschen ist, nach Kaspi, ein Teil der universalen gött 
lichen Vernunft, und so ist Gott selbst in der menschlichen Seele 
wirksam. 
Der jüngste der drei Epigonen des Rationalismus, Moses Narboni 
(um i3oo—i3Ö2), lebte in Perpignan, der Zufluchtsstätte der fran 
zösischen Exulanten, sowie in verschiedenen Städten Aragoniens. Hier, 
in der Stadt Gervera, wurde er von der Katastrophe des „Schwarzen 
Todes“ unmittelbar betroffen: der rasende Pöbel brach in sein Haus 
ein, beraubte ihn seiner ganzen Habe und seiner ihm so teuren Bü 
cher, ihm selbst gelang es jedoch, sich mitsamt anderen Gemeinde 
mitgliedern durch die Flucht zu retten (i348). Dieses traurige Ereignis 
lenkte indessen Narboni von seinen philosophischen Studien nicht ab, 
deren Ergebnisse er in der damals so beliebten Form eines Kommen 
tars zum maimonidischen „Führer“ darlegte. In seinem Werke setzte 
sich Narboni zum Ziele, die religionsphilosophischen Systeme des jü 
dischen und des arabischen Aristoteles, Maimonides und Averroes, 
zu einer Einheit zu verbinden. Die Theologie müsse sich, so meint 
er, ebenso auf der Naturkunde aufbauen wie die Metaphysik auf der 
Physik; daher beginne auch die Thora mit einem „System der Welt 
schöpfung, das eben die Wissenschaft von der Natur“ darstelle. Die 
Bibel habe einen zwiefachen Sinn, einen für die unaufgeklärte Menge 
und einen anderen für die auserwählten Geister: die materialisierten 
Symbole sowie die Erzählungen von den Wundertaten seien für das 
gemeine Volk bestimmt, die darin beschlossenen abstrakten Ideen aber 
für die Philosophen. Außerdem verfaßte Narboni noch eine Reihe 
anderer Kommentare: zur „Logik“ des Maimonides und zu manchen 
philosophischen Werken des Averroes, Avicenna und Al-Ghazali. Er 
war der letzte Vertreter des Rationalismus in Südfrankreich und Spa
	        
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