Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal 
blühende Gemeinde von Tudela der Zerstörung preiszugeben. Im Jahre 
i32 8 setzte in Navarra ein Interregnum ein, während dessen die von 
den Franziskanern auf gepeitschten Volksleidenschaften sich mit gan 
zer Wucht gegen die Juden wandten. In der Stadt Estella umzingelte 
die wütende Menge das jüdische Viertel; die darin eingeschlossenen 
Juden leisteten verzweifelten Widerstand, doch eilten dem Stadtmob 
Scharen von Bauern aus den benachbarten Dörfern zu Hilfe, und so 
wurde das Juden viertel bald erstürmt, worauf alle jüdischen Häu 
ser eingeäschert und fast sämtliche Einwohner niedergemetzelt wur 
den. Auch in einigen anderen Städten kam es zu mehr oder weniger 
blutigen Judenverfolgungen. Der berühmte Talmudgelehrte Mena- 
chem ben Serach, der einer aus Frankreich nach Navarra übergesie 
delten Exulantenfamilie angehörte, berichtet folgendes über die von 
ihm in Estella miterlebten Greuel: „Als der französische König, der 
Gebieter von Navarra, gestorben war, erhoben sich die Einwohner 
des Landes und beschlossen, alle Juden in diesem Königreiche aus 
zurotten. Sie machten in Estella und an anderen Orten etwa sechs 
tausend Juden nieder. Mein Vater, meine Mutter und vier jüngere 
Brüder fielen als heilige Märtyrer für die Einheit des Namens Got 
tes — möge der Herr für ihr Blut Vergeltung üben. Mir allein ge 
lang es, aus dem Hause zu entkommen. Ich war arg zugerichtet und 
mit Wunden bedeckt, denn fünfundzwanzig Bösewichte hatten mich 
mißhandelt und gemartert, und ich lag nackt mitten unter den Lei 
chen von der Dämmerung bis um Mitternacht des 2 3. Adar (6. März). 
Gegen Mitternacht kam dann ein Ritter, ein Freund unseres Hauses, 
zog mich aus dem Leichenhaufen hervor, brachte mich in sein Haus 
und gewährte mir Zuflucht. Als später in Navarra ein neuer König 
auf den Thron kam, erhoben wir, die Kinder der Ermordeten, ein 
Klagegeschrei und verlangten von ihm Sühne für das vergossene Blut 
unserer Väter, doch blieb all unser Flehen vergeblich“. In Wirklich 
keit nahm die Sache den folgenden Verlauf: der neue König des un 
abhängig gewordenen Navarra (Philipp III., Graf d’Evreux) befahl 
anfangs, die der Anstiftung zum Gemetzel schuldigen Mönche zu ver 
haften, und legte den Städten, in denen es zu Blutvergießen gekom 
men war, eine Geldbuße auf, begnadigte aber später alle Schuldigen 
und erließ auch den Städten die Strafgelder, da er sich um der Juden 
willen mit der christlichen Bevölkerung nicht entzweien wollte. Der 
König nahm überdies keinen Anstand, das herrenlos gewordene Gut 
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