Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien 
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doch keinen Trost beschert: bei seinem Anbruch erhob sich der Feind gegen uns, 
um uns zu verleumden 1 ), im Jahre i3 gab man uns der Verhöhnung preis, im 
Jahre 17 ereilten uns die Feinde mit schwer bewaffneter Hand, im Jahre 47 
und 48 vernichteten sie uns im Süden und Norden * 2 ), bis schließlich im 58. Jahre 
(1298) die heilige Herde den Peinigern ganz überliefert ward“ . . . 
Wer mochte glauben, daß aus der Mitte dieser Gemarterten andere 
Klänge ertönen könnten als die herzzerreißenden Lieder der um ihre 
Märtyrer Trauernden? Und doch sollte um jene Zeit eine Weise ganz 
anderer Art, das einsame Lied eines jüdischen Barden im Lager der 
Fremden erklingen. Im XIII. Jahrhundert taucht nämlich die rätsel 
hafte Gestalt eines jüdischen Minnesängers auf, der von Burg zu Burg 
zieht, um vor den deutschen Rittern seine Lieder anzustimmen. Dieser 
arme Wandersänger, über dessen Schicksal uns sonst nichts bekannt 
ist, hieß Süßkind von Trimberg (in Bayern). Allein nicht der Lust, 
der Liebe und den schönen Damen, die von den christlichen Minne 
sängern gepriesen zu werden pflegten, galt das Lied dieses Juden in 
den herrschaftlichen Burghöfen. In seinen sechs erhalten gebliebenen 
mittelhochdeutschen Liedern wird vielmehr die Unbeugsamkeit des 
Geistes, die tugendhafte Gattin, die Herzensgüte und der Edelmut 
verherrlicht. „Den, der edel handelt — heißt es da —, preise ich als 
einen Edelmann und nicht den, der nur mit dem Adelsbrief prahlt. 
Sehen wir nicht Rosen zwischen Dornen blühen (die Tugend der 
Armen), und die Unsitte unter den Edelleuten wuchern?“ Die von 
den Freuden des Lebens Berauschten gemahnt Süßkind an den Tod, 
der sie unweigerlich den Würmern zur Beute fallen läßt. Manche 
seiner Strophen stellen eine Nachahmung der biblischen Psalmen 
dar. Nicht beneidenswert war jedoch das Los des jüdischen Minne 
sängers, der in den Brutstätten des Lasters einen Hymnus auf die 
Tugend anstimmte, und so sah sich Süßkind schließlich genötigt, auf 
seine Kunst zu verzichten: „Ich will fliehen aus dem herrschaftlichen 
Hofe — so ruft er aus —, mir einen langen Bart und graue Haare 
wachsen lassen und fortan das Leben der alten Juden führen. Lang 
wird mein Mantel sein und meinen Hut werde ich tief in die Stirn 
drücken, demütig wird mein Gang sein und nur selten wird in den 
Burgen mein Lied erklingen, nachdem mir die Herren ihre Gunst 
!) Gemeint ist die Frankfurter Judenhetze vom Jahre 12 4i (oben, § 21), 
das dem Jahre 5ooi der jüdischen Zeitrechnung entspricht. 
2 ) Anspielungen auf die erwähnten Verfolgungen, die in den Zeitraum zwischen 
'den fünfziger und achtziger Jahren des XIII. Jahrhunderts fallen.
	        
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