Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien 
den Rationalismus ins Leben gerufen worden war. Für Deutschland 
war eher der vage Hang zum Jenseitigen bezeichnend, der Drang der 
gemarterten Seele, sich aus dem irdischen Jammertal zu jenen ge 
heimnisvollen Höhen emporzuschwingen, wo es weder Tränen noch 
Leid gibt. Um so günstiger war hier der Boden für das Gedeihen der 
jenigen literarischen Gattung, die im damaligen Spanien nur sehr 
wenig gepflegt wurde, für die Poesie des Märtyrertums, das Mar- 
tyrologium. 
Gleiche Ursachen — gleiche Wirkungen: wie im XII. Jahrhundert 
(Band IV, § 4i), so mischte sich auch jetzt das in den Straßen ver 
gossene jüdische Blut mit den in den Synagogen fließenden Tränen. 
Die wilden Ausschreitungen des XIII. Jahrhunderts, die von Tortur 
und Hinrichtungen begleiteten Ritualmordprozesse und schließlich die 
furchtbare Menschenschlächterei des Rindfleisch — all dies rief in 
den Herzen der Gemarterten stürmische Empörung und himmelan 
steigende Wehklagen hervor, die in den synagogalen „Kinnoth“ oder 
Elegien ihren beredten Ausdruck fanden. Während der Führer die 
ser Generation, R. Meir aus Rothenburg, in Paris in seiner Elegie 
„Schaali serufa“ (oben, § 4) die Verbrennung des Talmud be 
trauerte, hatte man in Deutschland bei lebendigem Leibe verbrannte 
Menschen zu beklagen. Die Hekatombe von Fulda (oben, § 21) ent 
rang der Brust eines unbekannten Elegiendichters den schon einst 
geäußerten leidenschaftlichen Vorwurf: „Wer ist dir gleich unter 
den Stummen, o Gott: du siehst zu und schweigest!“ Ein anderer 
Dichter ruft das Gericht Gottes in folgenden Versen auf das deutsche 
Sodom hernieder: „Vertilge ihr Land durch einen Hagel von Schwe 
fel und Salz, vergilt meine Leiden dem verabscheuungswürdigen und 
gräßlichen Volke ... Zahle ihm heim für seine triumphierende 
Raubgier, für das Blut der Unschuldigen, das sich mit dem Straßen 
kote vermengte!“ Bittere Ironie tönt uns aus dem ersten Satze der 
dem Andenken der Märtyrer von Sinzig (oben, § 22) gewidmeten 
Elegie entgegen: „Wieviel des Guten hast du, Herr, für diejenigen 
übrig, die treu auf deinen Wegen wandeln und sich auf dem Altar 
deiner Ehre aufopfern!“ Diese Elegie stammt von dem schon er 
wähnten Verfasser des Kompendiums „Mardochai“, der dreißig Jahre 
später selbst in Nürnberg den Märtyrertod fand. Nicht stumm und 
ergeben ließen die wehrlosen Opfer die Schrecken des inländischen 
Kreuzzuges über sich ergehen, der ganz Bayern um einer den Leib 
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