Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 22. Das Interregnum (125ä—1273) 
169 
geregt. Das Märchen, das die einfältige Volksmenge für bare Münze 
nahm, wollte wissen, ein altes Weib hätte sich mit den Juden an ge 
freundet und ihnen eine siebenjährige Waise verkauft, worauf die 
Juden das Mädchen in ein faltenreiches Leinengewand gehüllt und 
ihm unzählige Wunden beigebracht hätten, um das Gewand mit sei 
nem Blute zu durchtränken; nachdem das Blut auf solche Weise ab 
gezapft worden wäre, hätten die Bösewichte die Leiche in den Fluß 
geworfen. Als sie dann von Fischern aus dem Flusse gezogen wurde, 
rief das Volk laut, daß „nur die gottlosen Juden sich eines solchen 
Verbrechens hätten schuldig machen können“. Bald waren auch die 
„Beweise“ zur Stelle: als nämlich der Markgraf von Baden an die 
Leiche des Kindes trat, hob es — so lautet der Bericht der Chronik 
— die Hände gleichsam flehend zu ihm empor, als aber Juden in die 
Nähe des Leichnams gebracht wurden, öffneten sich die Wunden und 
begannen von neuem zu bluten. Das Volk soll durch diesen Anblick 
in so maßlose Erregung geraten sein, daß es die unverzügliche Hin 
richtung der Schuldigen verlangte, die denn auch bald überführt 
wurden: die Alte legte ein Geständnis ab und machte die Juden nam 
haft, die ihr das Mädchen angeblich abgekauft hätten, worauf diese 
gerädert und sodann mit der alten Hexe am selben Galgen gehenkt 
wurden. Dem chronographischen Bericht über diesen Vorfall, der 
sich im Jahre 1267 abgespielt haben soll, liegt eine Erzählung zweier 
„predigender Brüder“, d. i. Dominikanermönche, zugrunde, die dem 
grauenhaften Geschehnis als Augenzeugen beigewohnt, vielleicht aber 
auch eine aktivere Rolle dabei gespielt haben. 
Welcher Art die von den Dominikanern ins Volk getragenen Leh 
ren waren, ist aus den in jenen sturmbewegten Jahren (i2 5o—1272) 
von dem deutschen Mönch Berthold in Regensburg gehaltenen Pre 
digten zu ersehen. Juden, Ketzer und Heiden seien — so meinte er — 
Kinder des Satans; Kaiser wie Lehensherren müßten sich alle Mühe 
geben, die Christen vor ihrem verderblichen Einfluß zu bewahren. 
„Ein Christ seinem Namen und ein Jude seinen Taten nach“ — dies 
war die Redensart, mit der dieser Mönch jeden Unwürdigen zu kenn 
zeichnen pflegte. Mit den Juden solle man in keine näheren Be 
ziehungen treten, geschweige denn über Glaubensfragen mit ihnen 
disputieren, denn sie verständen es nur zu gut, durch Scheinbelege 
aus der Schrift die kirchlichen Glaubenslehren zu unterwühlen. Um 
die Aufrichtung einer Scheidewand zwischen Juden und Christen wa
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.