Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

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Deutschland im XIII. Jahrhundert 
scheinen vergessen zu haben, daß es gerade die alten Schriften der 
Juden sind, die für die christliche Religion Zeugnis ablegen. Wäh 
rend die Heilige Schrift das Gebot auf stellt: ,Du sollst nicht töten!‘ 
und ihnen am Passahfest sogar die Berührung von Toten untersagt, 
erhebt man gegen die Juden die falsche Beschuldigung, daß sie an 
diesem Feste das Herz eines ermordeten Kindes äßen. Wird irgend 
wo die Leiche eines von unbekannter Hand getöteten Menschen 
gefunden, so wirft man sie in böser Absicht den Juden zu. Es ist 
dies alles nur ein Vorwand, um sie in grausamster Weise zu verfolgen. 
Ohne gerichtliche Untersuchung, ohne Überführung der Angeklagten 
oder deren Geständnis, ja in Mißachtung der den Juden vom Aposto 
lischen Stuhl gnädig gewährten Privilegien, beraubt man sie in gott 
loser und ungerechter Weise ihres Besitzes, gibt sie den Hunger 
qualen, der Kerkerhaft und anderen Torturen preis und verdammt 
sie zu einem schmachvollen Tode. So haben denn die Juden unter 
der Gewalt solcher Fürsten und Machthaber noch viel mehr zu leiden 
als einst ihre Urahnen unter den Pharaonen in Ägypten. Solcher Ver 
folgungen wegen sehen sich die Unglückseligen gezwungen, jene Orte 
zu verlassen, wo ihre Vorfahren von altersher ansässig waren. Eine 
restlose Ausrottung befürchtend, rufen sie nun den Apostolischen 
Stuhl um Schutz an. Da wir die Juden, deren Bekehrung Gott in sei 
ner Barmherzigkeit noch immer erwartet, nicht ungerechterweise ge 
quält wissen wollen, gebieten wir euch, ihnen freundschaftlich und 
wohlwollend zu begegnen. Solltet ihr in Zukunft von solchen gesetz 
widrigen Bedrückungen von seiten der Prälaten, Edelleute oder Wür 
denträger hören, so achtet darauf, daß die Schranken des Gesetzes 
nicht überschritten werden, und lasset nicht zu, daß man die Juden 
unverdienterweise belästige 4 4 . 
Aus dieser Bulle dringt ein Widerhall all jener Greuel zu uns, die 
um jene Zeit anläßlich der Ritualmordlüge in Deutschland und 
Frankreich stets an der Tagesordnung waren. (Die Bulle war auch 
an die französischen Bischöfe gerichtet.) Bei seiner Verteidigung der 
Juden ließ sich freilich der Papst weniger von Mitleid als von der 
Hoffnung leiten, daß das jüdische Volk einstmals durch seine Bekeh 
rung „zum wahren Glauben 44 der Kirche einen Triumph bereiten 
würde. Solange jedoch diese glückhafte Stunde noch nicht geschla 
gen, sei es notwendig — so meinte er —, die Juden von den Christen 
zu isolieren, damit diese nicht unter den schädlichen Einfluß des
	        
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