Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
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erschaffung ex nihilo gelten zu lassen. Es ist für ihn bezeichnend, 
daß er den wunderbaren Stillstand der Sonne und des Mondes wäh 
rend der Schlacht bei Gibeon auf „natürliche“ Weise zu erklären 
sucht: Josua soll nämlich Gott nur darum gebeten haben, daß die 
Wirkungskraft der den Feind Israels nach astrologischem Gesetze be 
günstigenden Gestirne unterbunden werde. Dieses Gemisch von Aber 
glauben und Freidenkertum ist für die ganze Weltanschauung des 
Levi ben Chaim überaus charakteristisch. In den Fällen, wo vernunft 
gemäße Gründe für ihn nicht ausreichen oder er sie nicht in Anwen 
dung zu bringen wagt, nimmt er seine Zuflucht zu Symbolen oder 
Allegorien. Um indessen nicht in den Verdacht der Ketzerei zu kom 
men, begnügte er sich häufig, gleich dem verkappten Freidenker Abra 
ham ibn Esra, mit unklaren Andeutungen und täuschte sogar Ab 
neigung gegen die Ansichten der „Allegoristen“ vor. Seine freidenke 
rischen Lehren pflegte Levi ben Chaim auch in mündlichen Vorträgen 
und Predigten mitzuteilen, doch beschränkte er sich hierbei auf einen 
engen Kreis von Gleichgesinnten und ging jeder Auseinandersetzung 
mit Andersdenkenden behutsam aus dem Wege. 
Die im Geiste der alten Schule des Philo von Alexandrien gehal 
tene Doktrin des Symbolismus oder Allegorismus war aber der einzig 
mögliche Ausweg aus dem scharfen Widerstreit zwischen Tradition 
und Freidenkertum. Die Rationalisten machten bei der von ihnen an 
gestrebten Säuberung des Gottesbegriffs vor den in Bibel und Hag- 
gada vorkommenden anthropomorphistischen und bildlichen Redewen 
dungen nicht halt und versuchten, die Methode der allegorischen Aus 
legung auf den gesamten Inhalt der biblischen Erzählungen auszudeh 
nen. Sie gingen hierbei von der folgenden Erwägung aus: Sind wir 
bereit, solche biblische Redewendungen wie „Gott sprach“, „Gott 
streckte seinen Arm aus“ u. dgl. nur als poetische Bilder zu deuten, 
warum sollten wir denn auch die heiligen Legenden nicht in über 
tragenem Sinne aufzufassen versuchen? Es schien ihnen unglaub 
lich zu sein, daß die Heilige Schrift, der Born tiefster Weisheit, sich 
mit „unnützen“ Erzählungen über die Lebensschicksale einzelner Men 
schen hätte abgeben können. In dem ganzen erzählenden Teil der 
Thora sahen sie daher nur einen Schleier, hinter dem tiefsinnige Ideen 
verborgen wären. So ließen sie denn die in der Bibel wiedergegebenen 
realen Tatsachen zu abstrakten metaphysischen Formeln oder mora 
lischen Grundbegriffen, Geschichte und Poesie zu philosophischer
	        
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