Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 16. Philosophie und Freidenkertum 
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gesetzen dargetan, während sie in dem religiösen Schrifttum die Form 
von Legenden annehmen, die sich der für die Menge mehr faßbaren 
bildlichen Ausdrucksweise bedienen. So werden z. B. Ideen oder Dog 
men, wie die von der Unsterblichkeit, von der gerechten Vergeltung, 
von der göttlichen Vorsehung u. dgl. für Erleuchtete und für Unauf 
geklärte in verschiedener Weise formuliert: in abstrakter und geisti 
ger Fassung für die einen, in konkreter und materialisierter Form für 
die anderen. „In der Heiligen Schrift ist das eine für die Lippen, das 
andere fürs Herz bestimmt. Der innere Sinn ist den Weisen, der 
äußere den Einfältigen zugedacht“. Von hier aus war es nur noch ein 
Schritt bis zum extremen Allegorismus, ein Schritt, den die Zeitge 
nossen des Albalag denn auch zu machen wagten. 
An der Grenzscheide zwischen Rationalismus und Symbolismus 
tritt uns um diese Zeit ein seltsamer Denker, der aus Villafranca bei 
Perpignan gebürtige Lern ben Abraham ben Chaim oder Raibach, ent 
gegen (um 12 45—i3i5). Aus einer hochgebildeten Familie stam 
mend, mußte er später, von Mißgeschick verfolgt, mit dem Wander 
stab in der Hand, in Südfrankreich von Stadt zu Stadt ziehen. Eine 
Zeitlang fristete er ein ärmliches Dasein als Lehrer in Montpellier, 
um dann in Perpignan, im Hause eines reichen Mäzens, Samuel Sulami, 
ein Asyl zu finden; später treffen wir ihn in Beziers und Arles. Die 
zwei von ihm verfaßten Bücher („Bote ha’nefesch“ und „Liwiath 
chen“) stellen eine Art Enzyklopädie der Wissenschaft und der Theo 
logie dar. Das erste, in Versen abgefaßte Buch handelt über Ethik, 
Logik, Psychologie, Kosmogonie, über die Prophetie und das mes- 
sianische Zeitalter; im zweiten werden allerlei mathematische, astro 
nomische, astrologische, physikalische und metaphysische Fragen be 
handelt und überdies theologische und dogmatische Probleme einer 
eingehenderen Erörterung unterzogen. Der Verfasser gehörte offen 
bar zu jenen „Irrenden“, die am „Führer“ des Maimonides keinen 
Rückhalt zu finden vermochten. Immer wieder kommt er auf die ihn 
bewegende Frage von dem Unterschied zwischen einem Philosophen 
und einem Propheten, von dem Gegensatz zwischen beweisbarer und 
intuitiv erfaßbarer Wahrheit. Er bemüht sich, die Gebote des Judais 
mus zu rubrizieren und ihren inneren symbolischen Gehalt oder ihre 
Bedeutung für die Sittlichkeit vor Augen zu führen. Er nimmt keinen 
Anstoß daran, gleichzeitig sowohl die aristotelische Auffassung von 
der Ewigkeit des Weltalls als auch das religiöse Dogma von der Welt
	        
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