Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

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§ 55. Osteuropa: Polen und Rußland 
der Synagogen von Byzanz oder der „Romania“ („Machsor Ro 
mania“). 
Bemerkenswert ist es, daß in derselben Zeit, als bei den Rab- 
baniten von Byzanz die Literatur der Stagnation verfiel, das litera 
rische Schaffen der byzantinischen Karäer einen gewissen Aufschwung 
erlebte. Um die Mitte des XII. Jahrhunderts tat sich nämlich in Kon 
stantinopel der hochbegabte karäische Schriftsteller Jehuda Hadassi 
hervor. Sein umfangreiches Werk „Eschkol ha’kofer“ stellt ein sy 
stematisches Gesetzbuch dar, in dem die Gesetze entsprechend der 
^Reihenfolge der zehn Sinaigebote in ebenso viele Gruppen eingeteilt 
sind, wobei der Verfasser aus jedem dieser Gebote die mit ihm zu 
sammenhängenden Thoravorschriften in karäischer Interpretation 
herzuleiten sucht. Das Buch ist in gereimter Prosa abgefaßt und von 
allerlei Überlieferungen sowie von theologischen, grammatikalischen 
und exegetischen Betrachtungen durchsetzt, die häufig von einer Pole 
mik gegen die Rabbaniten begleitet sind. Diese eigenartige Enzyklopädie 
der karäischen Theologie und Gesetzeskunde bot eine unerschöpfliche 
Quelle für die späteren Kompilatoren. Kommentare zum Pentateuch 
schrieben außer Hadassi auch noch die byzantinischen Karäer Jakob 
ben Rüben und Aaron ben Joseph (im XI. und XII. Jahrhundert). 
Aaron ben Joseph, der Verfasser des „Hamibchar“, hielt sich eine 
Zeitlang in der Krim auf, deren karäische Kolonie mit den Häuptern 
der Sekte in Konstantinopel in engster Verbindung stand. 
§ 55. Der Zug aus Westeuropa nach Osteuropa: Polen und Rußland 
Der erste Kreuzzug, der die christlichen Massen nach dem asia 
tischen Morgenlande hin in Bewegung setzte, trieb' zugleich die jüdi 
schen Massen nach dem Osten Europas. Die ersten Auswandererscha 
ren, die sich nach den Schrecken des Jahres 1096 in Prag versammelt 
hatten, um weiter nach Polen oder Ungarn zu ziehen, wurden von 
dem böhmischen Fürsten Wratislaw, wie bereits erwähnt, zurück- 
gehalten und ausgeplündert (§ 33). Indessen vermochten solche Zwi 
schenfälle den unaufhaltsamen Zug der jüdischen Auswanderer, die 
aus Deutschland über Böhmen dem ruhigen, von der Kreuzfahrer- 
„Gesittung“ noch unberührt gebliebenen Polen zustrebten, auf die 
Dauer nicht zu unterbinden. Diese Auswanderung setzte sich durch 
das ganze XII. Jahrhundert fort. In der Zeit schwerer Bedrängnis
	        
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