Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

Alte und neue Kolonien 
durch die Weltereignisse gar bald in furchtbarster Weise Lügen ge 
straft werden: im Sommer des Jahres 1099 erreichte endlich das 
Kreuzfahrerheer Palästina, brach in Jerusalem ein und richtete unter 
den dort lebenden Juden schwerstes Unheil an . . . 
Den in ihren messianischen Hoffnungen so arg getäuschten by 
zantinischen Juden blieb nur der einzige Trost, daß sie wenigstens 
dem Schicksal ihrer Brüder in der Rheingegend entronnen waren. 
Infolge der zwischen Latinern und Griechen bestehenden Gegner 
schaft hielten sich diese von den Kreuzfahrern möglichst fern, soweit 
sie sich nicht selbst gegen die auf dem Balkan und in Kleinasien 
wütenden Räuberbanden zur Wehr setzen mußten. So war das für 
die mitteleuropäische Judenheit so verhängnisvolle XII. Jahrhundert 
in der Geschichte der byzantinischen Juden eine der ruhigsten Pe 
rioden, während der sie unter keinerlei Massenverfolgungen zu lei 
den hatten und eine überaus rege Wirtschaftstätigkeit in dem gan 
zen Bereiche der griechischen Mittelmeerküste zu entfalten vermoch 
ten. Dies wird uns von dem in den sechziger Jahren dieses Jahr 
hunderts aus Italien weiter nach Byzanz vorgedrungenen Reisenden 
Benjamin Tudela bezeugt, dessen Schilderung ein getreues Bild von 
dem Leben der jüdischen Gemeinden unter Kaiser Manuel Komnenos 
bietet. 
In dem im äußersten Süden Italiens gelegenen und noch unter 
byzantinischer Herrschaft stehenden Hafen Otranto angelangt, ver- 
zeichnete der Reisende, daß die Stadt sich „an der Küste des Grie 
chischen Meeres“ erhebe und eine sich aus fünfhundert Mitgliedern 
zusammensetzende, von einem Rabbinerkollegium verwaltete jüdische 
Gemeinde beherberge. In der Stadt Arta (oder Larta), wo „man schon 
die Stammlande des griechischen Königs Manuel betritt“, fand Ben 
jamin nahezu hundert Juden vor; eines der Gemeindehäupter trug 
den ausgesprochen griechischen Namen „Herakles“. In Patras wa 
ren fünfzig, in Lepanto hundert Juden ansässig; in Krisso, am Fuße 
des Parnaß, lebten in völliger Abgeschlossenheit zweihundert Juden, 
die Landwirtschaft trieben: „Sie säen und ernten auf eigenen Be 
sitzungen, auf eigenem Grund und Boden“ — so berichtet Benjamin 
über die seltene Ausnahmeerscheinung. In Korinth zählte die Ge 
meinde dreihundert Mitglieder. Die größte Gemeinde im eigentlichen 
Griechenland hatte aber Theben aufzuweisen: „Es ist dies eine große 
Stadt, in der etwa zweitausend Juden ansässig sind. In der Verfer-
	        
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