Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 46. Nationale und universale Philosophie 
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der Religion zu geben, doch konnte den König ein philosophisches 
System, in dem die Gottheit als eine des Willens beraubte und zum 
zielbewußten Weltlenken unfähige Macht erschien und in dem das 
menschliche Leben und die gesamte Sittlichkeit nur durch trockene, 
von Menschenverstand ausgeheckte Formeln bestimmt war, keineswegs 
zufriedenstellen. Schon die Art, wie der Verfasser den „Philosophen“ 
sprechen läßt, ist dazu angetan, dessen Grundauffassung vom reli 
giösen Standpunkt aus als völlig unhaltbar erscheinen zu lassen: „Der 
Schöpfer ist weder von einem Willen noch von Affekten bewegt, denn 
er ist über alle Begierden und Triebe erhaben. Er steht über allen 
dem Zeitwandel unterworfenen Einzelerscheinungen. Er kümmert sich 
nicht einmal um dich selbst, geschweige denn um deine Wünsche 
und deine Privatangelegenheiten; weder hört er deine Gebete noch 
sieht er deine Körperbewegungen. Wenn die Philosophen davon re 
den, daß er dich erschaffen hat, so meinen sie das nur bildlich, in 
dem Sinne, daß er die Ursache aller Ursachen des gesamten Welt 
schöpfungswerkes, nicht aber der Urheber eines vorbedachten einzel 
nen Schöpfungsaktes sei“. Der von dieser nüchternen Religion des 
Philosophen unbefriedigt gebliebene Chasarenkönig läßt sich nun von 
einem Christen beraten. Der Christ beginnt mit der Darlegung der 
biblischen Lehre von der in sechs Tagen vollendeten Weltschöpfung 
und von der fortdauernden Abhängigkeit des menschlichen Geschicks 
von der göttlichen Vorsehung, um hierauf das Dreifaltigkeitsdogma 
auseinanderzusetzen. Dem Chasaren scheint jedoch dieses Dogma dem 
natürlichen Verlauf der Dinge zu widersprechen und er wendet sich 
nunmehr an einen Muselmanen, der sich in Lobpreisungen des „letz 
ten der Propheten“ und des Koran ergeht. Dem König will es in 
dessen nicht einleuchten, daß Gott seine letzte Offenbarung gerade 
den Arabern habe zuteil werden lassen. Schließlich kommt ein Jude 
an die Reihe. Zunächst hat der König nicht daran gedacht, auch den 
Vertreter der „gedemütigten Nation“, deren Lage allein schon ein 
hinlänglicher Beweis für den auf ihr lastenden göttlichen Zorn zu 
sein schien, zu einer Unterredung zu bestellen; die häufige Berufung 
sowohl des Christen wie des Muselmanen auf die Bibel als die Ur 
quelle ihrer Lehren veranlaßt ihn jedoch, auch den Repräsentanten 
des Volkes zu hören, das dieses heilige Buch geschaffen hat. So bietet 
sich dem jüdischen Gelehrten (Chaber) eine Gelegenheit, vor dem 
chasarischen König die Philosophie des Judaismus zu entwickeln.
	        
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