Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 45. Abraham ihn Esra und Alcharisi 
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„Zion, fragst du doch nach dem Los der Verbannten, nach dem Überreste 
der dich verehrenden Getreuen! Von West und Ost, von Nord und Süd entbietet 
dir seinen Gruß der Ferne und der Nahe. So empfange denn auch die Huldigung 
des in Liebe an dich Gefesselten, dessen Tränen gleich dem Hermontau die Erde 
benetzen, den es danach dürstet, sie auf deinen Bergen zu vergießen! . . . 0, 
wie wünschte ich doch mein Herz an jener Stätte zu erleichtern, wo der göttliche 
Geist auf deinen Auserwählten ruhte! Du königliches Heim, du göttlicher Ruh 
mesthron, wie machen sich nun Sklaven auf deinen Prunksesseln breit! 0 könnte 
ich doch an jenen Stätten wandeln, wo Gott sich seinen Propheten und Sendboten 
einst offenbarte! 0 hätte ich Flügel, ich flöge in die Ferne zu dir; unter dei 
nen Trümmern würde ich mein gebrochenes Herz begraben; ich würde meine 
Wange an deine Erde, deine Steine an meine Brust drücken und deinen Staub 
ehrfurchtsvoll küssen. Ich stände an den Gräbern meiner Väter und bewunderte 
zu Hebron die Pracht deiner Grabmäler. In deinem Walde, deinem Karmel, würde 
ich lustwandeln, in Gilead Rast halten und an deinem Berge Abarim mein Auge 
weiden . . . Der Hauch deiner Lüfte ist für das Herz erquickend, der Staub 
deiner Erde duftet wie Balsam, und süßer Honig strömt in deinen Flüssen. Glück 
lich wäre ich, nackt und barfuß mitten unter den öden Ruinen deiner alten Pa 
läste umherzustreifen! . . . Wie kann ich das Leben genießen, da ich Zusehen 
muß, wie Hunde die Leichen deiner Löwen zerreißen! Wie kann ich mich am 
Sonnenlicht ergötzen, da Raben deine toten Adler zerfleischen! . . . Kann denn 
Schinear und Patros (Babylonien und Ägypten) mit dir wetteifern und ihr dump 
fer Glaube sich mit deiner wahrheitkündenden Weisheit vergleichen! Wer käme 
deinen Gesalbten und Propheten, deinen Leviten und Sängerchören gleich?“ 1 ) 
In diesen leidenschaftlichen Ergüssen des nationalen Dichters zit 
tert die Klage des im „Galuth“ unheilbar verwundeten Herzens nach 
und die Vorahnung kommenden Unheils. Das Lied der unstillbaren 
Sehnsucht erscholl am Vorabend zweier Katastrophen: der Zerstö 
rung der jüdischen Gemeinden in Afrika und Andalusien durch die 
fanatischen Horden der Almohaden und des von den Kreuzfahrern des 
zweiten Zuges in Frankreich und in Deutschland angerichteten Blut 
bades (i l/j.2 — I I 48). 
§ 45. Die Dichter Abraham ibn Esra und Jehuda Alcharisi 
Der dritte große Dichter dieser Zeit, Abraham ben Meir ibn Esra 
(1092—1167), steht Jehuda Halevi an Tiefe des dichterischen Erleb 
nisses und an Schönheit der Ausdrucksform bedeutend nach, doch 
ist auch seine Poesie im großen und ganzen von den gleichen Grund 
stimmungen beseelt. Er war ein Mann von vielseitigster Begabung: 
ein Philosoph, ein kritisch veranlagter Exeget, ein Grammatiker, ein 
Astronom, ein Mathematiker und nicht zuletzt auch ein Dichter. Ge- 
1) Ibid. I, 10—14 und in allen Ausgaben der „Kinoth le’tischa be’Ab“.
	        
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