Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

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§ 39. Die Tossafisten und das rabbinische Schrifttum 
„Tossafoth“ 1 ), aufzuführen, in denen wiederum Exegetik, freie Aus 
legung und die Frucht des überfeinen Verstandes, die haarspaltende 
Dialektik, unmerklich ineinander übergingen. Die Urheber dieser 
exegetischen Ergänzung zum Talmudtexte hießen Tossafisten (Baale- 
Tossafoth). Es ist wohl kein Zufall, daß diese rabbinische Schola 
stik gerade in Frankreich und Deutschland zur Entfaltung kam, d. i. 
in jenen Ländern, wo um diese Zeit auch die christliche theologische 
Scholastik ihre höchsten Triumphe feierte. 
Die ersten Tossafisten gingen nicht nur aus der von Raschi in 
Troyes begründeten Schule hervor, sondern entstammten sogar sei 
ner eigenen Familie. Die Töchter des Raschi hatten sich nämlich mit 
seinen hervorragendsten Jüngern verheiratet, von denen einer, Rabbi 
Meir, auch als der erste Tossafist gilt. Seine Söhne übertrafen ihn 
indessen noch an Gelehrsamkeit. Von diesen Enkelkindern des Ra 
schi hinterließen namentlich zwei eine unverwischbare Spur im rab- 
binischen Schrifttum: Rabbi Samuel ben Meir, der unter seinem ab 
gekürzten Namen Raschbam bekannter ist, und Rabbi Jakob ben 
Meir Tarn oder kurzweg Rabbenu Tarn genannt. Ihre Wirksamkeit 
stellt einerseits eine Fortführung des kommentatorischen Werkes des 
Raschi dar, und legt andererseits den Grundstein für die neue tossa- 
fistische Literatur. 
Raschbam (um 1080— ii5o) war es beschieden, das stolze Werk 
seines Großvaters mit durchgreifendem Erfolge weiterzuführen und 
zu ergänzen. Er brachte jene Teile des Talmudkommentars zum Ab 
schluß, die Raschi unvollendet gelassen hatte. Zugleich setzte sich 
Raschbam eine Berichtigung des auf talmudische Deutungen sich 
gründenden Bibelkommentars des Raschi zum Ziele. So verfaßte er 
denn einen neuen umfassenden Kommentar zum Pentateuch, in dem 
er sich von der Methode des „Peschat“ oder der Herausarbeitung des» 
unmittelbaren Sinngehaltes des Textes leiten ließ, ohne der Methode 
des „Derasch“, d. i. der auf die Erhärtung irgendeiner halachischen 
Norm oder auf haggadische Belehrung abzielenden Umdeutung, auch 
nur die geringsten Konzessionen zu machen. 
D Wir schließen uns somit der Ansicht von Weiß an, daß unter dieser Be 
zeichnung Ergänzungen und Erläuterungen zum Talmud selbst zu verstehen sind, 
nicht aber zu dem Talmudkommentar des Raschi, wie es Graetz annehmen zu 
sollen glaubt.
	        
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