Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 35. Die Nachwehen der Kreuzzüge in Frankreich 
glieder zu erleichtern, sahen sich viele von ihnen dennoch genötigt, 
Narbonne zu verlassen und nach Anjou, Poitou und anderen Städten 
Nordfrankreichs überzusiedeln. Dies hatte zur Folge, daß die Ge 
meinde von Narbonne, die bis dahin etwa zweitausend Familienväter 
zählte, stark zusammenschmolz und um die Mitte des XII. Jahrhun 
derts nur noch aus etwa dreihundert Familien bestand. 
Ein lebendiges Bild von der Lage der Juden in dem damaligen 
Südfrankreich ist uns in den Reiseschilderungen des Benjamin von 
Tudela erhalten geblieben, der um das Jahr 1160 die Hauptstädte 
dieser Gegend bereiste. In Narbonne fand er eine wohlorganisierte 
jüdische Gemeinde vor, die sich aus dreihundert Familien zusammen 
setzte und von Rabbi Kalonymos, dem Sohne des „großen Nassi“ 
Todros, geleitet wurde; das Gemeindeoberhaupt „besaß Güter und 
Ländereien, die ihm von den Landesherren übertragen worden wa 
ren“. In Beziers (das hebräische „Bederes“) standen an der Spitze 
der Gemeinde gelehrte Rabbiner. In Montpellier blühte der Handel, 
da „dorthin christliche und muselmanische Kaufleute aus allen Län 
dern: aus Algarva (Portugal), der Lombardei, aus dem Reiche des 
großen Rom, aus Ägypten, Palästina, Griechenland, Frankreich, Spa 
nien und England zu kommen pflegten; dank den von den Genuesern 
und Pisanern gepflegten Handelsbeziehungen begegnete man hier 
Menschen, die in allen Zungen redeten“. Die Gemeinde von Lunel 
(dreihundert Mitglieder) war durch ihre Gelehrten und ihre Talmud 
akademie berühmt. Eine Akademie oder „Jeschiba“ bestand auch in 
Posquiere. In Saint-Urilles stand an der Spitze der Gemeinde der 
„Nassi“ Abba-Mari, der zugleich ein Beamter des Grafen Raimund 
war. Die alte jüdische Gemeinde von Arles (Arelat) zählte zweihun 
dert Familien, und die von Marseille volle dreihundert. Die jüdische 
Siedlung von Marseille bestand aus zwei Hälften: während sich die> 
eine in der Unterstadt an der Meeresküste befand, lag die andere in 
der Oberstadt in der Nähe der Festung. Die Stadt stand in regstem 
Handelsverkehr mit Italien, insbesondere mit Genua. Wiewohl die 
Genuesen, Venezianer und die christlichen Handelskorporationen an 
derer Orte die Juden aus dem Überseehandel zum größten Teil bei- 
reits verdrängt hatten, vermochten diese in solchen Hafenstädten 
wie Marseille ihre Geltung als Faktor des Welthandels im XII. und 
XIII. Jahrhundert noch zu behaupten, bis dann die Zeit der allge 
meinen Judenverfolgungen in Frankreich auch ihre Stellung untergrub. 
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