Die digitale Landesbibliothek Oberösterreich

§ 32. Allgemeine Übersicht 
Das Jahr 1096 bedeutet für die Geschichte der Juden im Mittel- 
alter einen entscheidenden Wendepunkt. Mit diesem Zeitpunkt beginnt 
die Ära des Massengemetzels. Der Aufruf der Kirche zum Kampf 
gegen die Muselmanen im Heiligen Lande hatte vor allem ein Blut 
gericht über die Juden in Europa zur Folge. Ein volles Jahrhundert 
ist das christliche Europa von der Wahnidee der Religionskriege 
gleichsam wie besessen. Die ersten drei großen Kreuzzüge stellen in 
diesem Jahrhundert zugleich den Leidens- und Märtyrerweg des jüdi 
schen Volkes dar (1096, 1147, 1189—1190). Zu Beginn des näch 
sten Jahrhunderts verlieren die nach dem Orient, nach außen unter 
nommenen Kreuzzüge immer mehr an Bedeutung; die europäischen 
Juden werden nunmehr von den nach Asien ziehenden Kreuzrittern 
sozusagen nur im Vor üb ergehen gemordet; in den Vordergrund tritt 
jetzt der gegen den inneren Feind gerichtete Kreuzzug: der 
Kampf gegen die Schismatiker der Kirche (Albigenserkriege) und das 
System der strengen Isolierung der Judenheit gemäß den Vorschriften 
der Lateransynode vom Jahre 1215 (das den Juden in Form 
der vorgeschriebenen Sondertracht auf gedrückte Kainszeichen). Hier 
mit ist in der jüdischen Geschichte der Endpunkt des „Zeitalters der 
Kreuzzüge“ erreicht. Dann folgt die düsterste Periode des Mittelalters, 
seine letzten drei Jahrhunderte, die indessen nach unserer Einteilung 
schon in den folgenden Zeitabschnitt fallen. 
Um die Zeit, als die Kreuzzüge ihren Anfang genommen hatten, 
war die soziale Verfassung des mittelalterlichen Staates bereits in ihre 
Kristallisationsphase eingetreten. Die sozialen Mächte, die sich bis 
dahin noch im Zustand der Gärung befanden und sich gegenseitig be 
kämpften, konsolidieren sich nunmehr, nehmen scharfumrissene For 
men an und zeitigen durch ihr Zusammenspiel eine festgefügte kirch 
lich-feudale Ordnung in Westeuropa. Schon vor dem ersten Kreuz 
zuge kam es zu einem entscheidenden Treffen zwischen der geistlichen