Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§ 21. Die geistige Kultur in Italien und Byzanz 
Thessalien und im eigentlichen Griechenland ihre Umgangssprache 
wiederum das Griechische war. Und doch besaßen sie, trotz die 
ser Vielsprachigkeit im alltäglichen Verkehr, alle insgesamt nur eine 
Literatursprache — die hebräische. Wir konnten schon oben (§ 19) 
auf die um jene Zeit bei der Abfassung von Grabschriften in Südita 
lien üblich gewordene Benutzung der nationalen Sprache sowie auf 
die dementsprechenden Datierungen nach der nationalen Zeitrech 
nung hinweisen. Indessen machte sich hier die durch den Zufluß 
frischer Kräfte aus den geistigen Zentren des Morgenlandes bewirkte 
Neubelebung der nationalen Kultur nicht allein auf diesem engbe 
grenzten Gebiete bemerkbar. Der Weg aus Palästina und Babylonien 
nach Westeuropa führte nämlich über Italien und Byzanz, und so wa 
ren diese Länder ebenso wie das von den Arabern eroberte Spanien 
die gegebenen Sammelbecken für die auf der Wanderung von Ost 
nach West begriffene jüdische Volkskultur. Schon früh entwickelte 
sich hier ein reges akademisches Leben. Aus der Familienchronik des 
Achimaaz ist zu ersehen, daß über die süditalienischen Gemeinden 
ein ganzes Netz blühender rabbinischer „Jeschiboth“ ausgebreitet war. 
Noch im XII. Jahrhundert war in Frankreich die alte Redensart in 
Umlauf: „Von Bari geht die Lehre aus, und das Wort Gottes von 
Otranto“. Aus dem lombardischen Lucca siedelte, wie bereits her 
vorgehoben, die Gelehrtenfamilie der Kalonymiden nach Deutsch 
land über, um das jüdische Wissen auch dorthin zu verpflanzen. In 
dessen vermochte die rein talmudische Rechtswissenschaft, die in 
Frankreich und Deutschland bald üppig erblühen sollte, in dem Bo 
den von Italien und Byzanz nie festere Wurzeln zu fassen. Diese bei 
den Länder waren eher geistige Abkömmlinge des damaligen Pa 
lästina als Babyloniens. So kam es, daß die italienisch-byzantinischen 
Kolonien das von Babylonien hinterlassene halachische Erbgut fast 
gänzlich den nördlichen Ländern überließen, während sie selbst von 
Palästina das haggadische Element, die Neigung zur Midraschform, 
zur synagogalen Predigt und zu dem mit ihr zusammenhängenden 
„Piut“ übernahmen. Zwar fällt es schwer, mit Genauigkeit festzustel 
len, welche Werke des anonymen Midraschschrifttums gerade dem 
italienischen oder byzantinischen Boden entsprossen sind, doch ist bei 
manchen dieser Schöpfungen ihre Herkunft aus diesen Ländern 
durchaus unverkennbar. 
Hierzu gehört vor allem der treffliche Midrasch „Tanna debe
	        
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