Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§17. Die Gelehrten von Lothringen und Raschi 
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erbarme dich der Mißhandelten und Gepeinigten, die jeden Tag für 
dich ihr Leben lassen. Laß doch vor unseren Augen den verwüsteten 
Tempel Wiedererstehen, führe zurück aus der Gefangenschaft das 
Gezelt Jakobs, errette uns um deines heiligen Namens willen!“ Der 
Leidensgenosse des Rabbi Gerschom in der Zeit der Mainzer Verfol 
gungen, das Gemeindehaupt Simon ben Isaak, hinterließ gleichfalls 
elegische Bethymnen, in denen die tiefinnere, an Gott gerichtete An 
sprache gleichsam ihre Fortsetzung fand: „Tagtäglich werden wir 
um deines heiligen Namens willen hingeschlachtet und doch hören 
wir nicht auf, dich in unserem Herzen zu loben und zu preisen. Wir 
sind ausgeliefert in die Hand des harten Bedrängers . . . Die Feinde 
spotten unser, indem sie sprechen: Dahin ist eure Hoffnung, den 
Fesseln der Schmach zu entgehen, euer Untergang ist endgültig be 
siegelt. So beeile dich denn und stärke meinen Mut, damit Edom 
nicht sagen kann: Mein ist der Sieg!“ In all diesen Klageliedern kam 
eher die Vorahnung des kommenden Unheils der Kreuzzüge zum 
Ausdruck als das unmittelbare Erleben der Gegenwart, die noch ver 
hältnismäßig erträglich war. 
Der fruchtbarste unter den Paitanim jener Zeit war Meschullam 
ben Kalonymos, einer der nach Mainz übergesiedelten Kalonymiden. 
Die Jom-Kippur-Liturgie ist voll von seinen erhabenen Hymnen, die 
sich zuweilen bis zu der dichterischen Kraft der Psalmen aufschwin 
gen, allerdings nur dem Inhalte, nicht auch der Form nach. In der 
Passah-Liturgie sind einige gleichfalls dem Meschullam zugeschrier- 
bene Hymnen enthalten, in denen, nach dem Vorbild des Hoheliedes, 
die verstoßene Tochter Zion mit ihrem „Jugendfreunde“, mit Gott, 
ein vertrautes Zwiegespräch führt; die dazu gehörende Hymne „Be- 
rach dodi“ ist eine Perle der synagogalen Dichtkunst. Auch noch 
manche andere Paitanim tauchten im XI. Jahrhundert in Deutschland 
und in Frankreich auf. Einige aus dieser Zeit stammende Hymnen 
und „Selichoth“ hatten Raschi selbst zu ihrem Verfasser. 
Die verhältnismäßig hohe Schulbildung der Juden, die in krassem 
Gegensatz zu der grenzenlosen Unwissenheit und Unbildung der 
christlichen Massen jener Zeit stand, war am wenigsten dazu angetan, 
die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Bekennern der beiden 
Religionen erträglich zu gestalten. Unter den abergläubischen christ 
lichen Volksmassen galten die Juden als Schwarzkünstler, Zauberer, 
als Bundesgenossen des Teufels. Ihr Hauptbestreben — so verkündete
	        
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