Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (4, Europäische Periode ; Das frühere Mittelalter / 1926)

§16. Die Anfänge der jüdischen Kultur in Mitteleuropa 
Zwei Legenden versinnbildlichen in lebendigen Gestalten den Pro 
zeß der Verschiebung der nationalen Kultur aus den alten Diaspora 
zentren nach den neuen. Die eine dieser Volkslegenden zeigt uns Karl 
den Großen, wie er selbst den Gelehrten Machir aus Bagdad nach 
Narbonne kommen läßt, wo dieser den Grundstein zu der ersten Tal 
mudschule in Südfrankreich legt und zugleich in der Provence die 
Dynastie der jüdischen „Nessiim“, d. h. der Patriarchen oder Exil 
archen, begründet (s. oben, § 12). Die andere Sage will wissen, daß 
Karl den gelehrten Juden Kalonymos aus der lombardischen Stadt 
Lucca nach Mainz berufen habe, wo dieser sowie seine Nachkommen 
dann lange Zeit hindurch an der Spitze der jüdischen Gemeinde stan 
den. Die zweite Legende wird von der geschichtlichen Kritik dahin 
berichtigt, daß sie diese Sage mit der Übersiedlung der italienischen 
Familie des Kalonymos aus Italien nach Mainz in Zusammenhang 
bringt, die nachgewiesenermaßen in die viel spätere Regierungszeit des 
deutschen Kaisers Otto II. fällt, dem das Haupt dieser Familie einen 
wichtigen Dienst erwiesen hatte (oben, § i5). Wie dem auch sein 
mag, jedenfalls weisen beide Sagen 1 ) in treffender Weise auf jene 
Quellen hin, aus denen den französisch-deutschen Kolonien die gei 
stige Schaffensenergie in der Tat Zuströmen mochte: es waren dies 
das Talmudland Babylonien einerseits und die Geburtsstätte der west 
europäischen Kultur, Italien, andererseits. Man könnte überdies noch 
von einer dritten Quelle sprechen: von dem jüdisch-arabischen Spa 
nien, das das geistige Erbe des östlichen Kalifats unmittelbar auf 
gesogen hatte, um dann auch die benachbarte Provence mit einem 
Teil der ihm zugefallenen Schätze zu bedenken. 
In Narbonne sowie in einigen anderen Städten Südfrankreichs 
scheinen denn auch die ersten Bildungspioniere unter den französi 
schen Juden aufgetaucht zu sein. Hier eben kam im X. und XI. Jahr 
hundert die biblische Exegetik zuerst zur Entfaltung, und zwar in 
ihren beiden Abzweigungen: als Predigt und als Textinterpretation 
(„Darschanuth“ und „Parschanuth“). Die einen verlegten sich näm 
lich darauf, dem Bibeltexte Stoff für die Predigt und Belehrung im 
Geiste der talmudischen Haggada und des Midrasch zu entlehnen, in- 
!) Die Sagen sind in dem in jüngster Zeit entdeckten Nachtrag zu der 
Chronik des Ibn-Daud „Sefer ha’Kabbala“ (ed. Neubauer, I, 82), ferner in der 
Chronik „Juchassin“ des Abraham Zacuto sowie in „.Emek ha’bacha“ des Joseph 
ha’Kohen zu finden, in Quellen also, die alle aus viel späterer Zeit, aus dem 
XII.—XVI. Jahrhundert stammen.
	        
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