Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes im Orient (3, Orientalische Periode / 1926)

Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien 
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zu werden pflegte, und Samuel Jarchinai, auch Mar oder Samuel 
genannt 1 ). Beide in Babylonien geboren und mit hervorragenden Gei 
stesgaben bedacht, konnten sie in der Heimat, wo es um jene Zeit 
weder Hochschulen noch hervorragende Gesetzeslehrer gab, ihren 
Wissensdurst nicht stillen. Dem Beispiel R. Chijas und anderer Lands 
leute folgend, gingen sie nach Palästina, wo damals der Patriarch 
Jehuda ha’Nassi gerade an seiner Mischnasammlung arbeitete und wo 
sie in den Akademien von Zippora und Tiberias regstes geistiges Le 
ben vorfanden. Zu Jüngern des Patriarchen geworden, errangen sich 
Abba und Samuel gar bald eine Vorrangstellung in den Kreisen der 
akademischen Jugend. Besonders tat sich Abba durch seine dialek 
tische Begabung hervor; bei der Erörterung strittiger Gesetzgebungs 
fragen trat er sogar dem Patriarchen selbst nicht selten mit Erfolg 
entgegen. Da sie dem Prozeß der Mischnasammlung unmittelbar bei 
wohnten, vielleicht auch selbst daran teilnahmen, hatten die babyloni 
schen Gelehrten Gelegenheit, in die letzten Geheimnisse der münd 
lichen Lehre einzudringen. Mit reichen Kenntnissen ausgerüstet und 
von dem sehnlichsten Wunsch erfüllt, das, was damals als wahre Bil 
dung galt, auch in Babylonien heimisch zu machen, traten sie voll 
Zuversicht den Heimweg an (um 200). 
Rab Abba, oder Rab, wie man ihn nunmehr zu nennen pflegte, 
versah zunächst das Amt eines „Meturgeman“ oder Auslegers von Vor 
trägen in der Schule von Nehardea als Assistent ihres Rektors („Resch- 
Sidra“), des greisen Gelehrten Rab Schila. Der Assistent übertraf aber 
bei weitem den Rektor an Gelehrsamkeit und wurde auch bald als 
dessen Nachfolger in Aussicht genommen. Nach dem Ableben des Rab 
Schila lehnte es jedoch Rab ab, diese Stellung, die als die ehrenvollste 
in Babylonien galt, einzunehmen und überließ das Rektorat seinem 
Freunde Samuel, der als ein geborener Nehardäer eher Anrecht darauf 
besaß. Er selbst übernahm auf Anerbieten des Exilarchen das Amt 
eines „Agoranomen“, d. i. eines Handelskontrolleurs oder Bezirks 
inspektors, der in allen Gemeinden Babyloniens über richtiges Maß 
und Gewicht, sowie über die Einhaltung von Höchstpreisen für Le 
bensmittel die Aufsicht zu führen hatte. Bei Ausübung dieses für 
einen Gelehrten wenig geeigneten Amtes geriet Rab manchmal in un 
liebsame Konflikte mit dem Exilarchen. So verhängte dieser einst 
!) In Babylonien wurden die Gelehrten mit „Rab“ oder „Mar“ angeredet 
und nicht mit „Rabbi“ (mein Meister), wie in Palästina.
	        
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