Die Entstehung des Christentums
Regionen des geistigen Lebens der Nation vorherrschend war. Das da
malige Pharisäertum enthielt neben vielen fördernden, lebenskräfti
gen Elementen gar manches, was die Bekenner eines religiösen Pietis
mus abstoßen mußte. Die übermäßig große Bedeutung, die die Phari
säer der Gesetzeskunde, der Gelehrsamkeit und dem Buchwissen bei
legten, rief in gewissen Gesellschaftskreisen eine Verachtung für den
des Gesetzes unkundigen gemeinen Mann, den „Landmann“, den
„Am-ha’arez“, hervor. Dem gemeinen Manne wurde wahre Religiosi
tät abgesprochen; man blickte auf ihn als auf ein nicht rechtsfähiges
Mitglied der Gesellschaft herab. Dieser geistige Aristokratismus der
Pharisäer empörte die Begründer des Christentums nicht weniger als
der Geschlechtsaristokratismus der Sadduzäer. Dem niederen Volke
selbst entsprossen, vermochten sich Jesus und die galiläischen Fischer
in dessen Seelenverfassung besser einzufühlen. Sie wußten nur zu
gut, daß der schlichte Mann des innigen religiös-sittlichen Gefühls
nicht weniger teilhaftig zu werden vermag als der Bücherweise. Und
überdies sahen sie, wie oft in den pharisäischen Kreisen äußere Fröm
migkeit in Scheinheiligkeit ausartete, in marktschreierische Werk
heiligkeit, die nur auf irdische Vorteile und gesellschaftlichen Ein
fluß bedacht war. Diese Heuchler und Scheinheiligen eben, die auch
die Besten unter den Pharisäern als die „Gefärbten“ (Zewuim) kenn
zeichneten, tadelte die neue Lehre mit der ganzen Wucht ihrer Straf
reden, indem sie die ganze Partei mit jenen identifizierte.
Das Bestreben, das religiös-sittliche Empfinden zu vertiefen, stellte
das wertvollste positive Element der neuen Lehre dar. Doch war diese
Strömung nicht neu; schon längst besaß sie innerhalb des Judaismus
ihre Vertreter: vielseitige (die alten, gegen den Kultus und für den
reinen sittlichen Glauben kämpfenden Propheten) und einseitige (die
Essäer mit ihrer mystischen Vertiefung der religiösen Akte), und auch
noch in einer viel späteren Epoche kommt sie in einer mächtigen
Volksbewegung zum Durchbruch (im Chassidismus). Ja sogar in dem
Pharisäertum der Zeiten Jesu war diese Strömung bemerkbar. Einer
der ältesten Evangelisten, ein ausgesprochener Gegner der Pharisäer
partei, führt denn auch die rührende Erzählung von einem Schrift
gelehrten an, der in der Beantwortung der Frage: Welches ist das
vornehmste Gebot vor allen? mit Jesus völlig einig war. Beider Ant
wort lautete: an den einzigen Gott glauben, ihn von ganzem Herzen
lieben und seinen Nächsten als sich selbst lieben. Jesus billigte die