Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

Nus zwei Etagen bestehender Eisberg. 
Zm 2a«ber 
R'oher kommt es doch, daß jene kühnen Männer, 
die es vergeblich unternommen haben, in 
die Eiswelt des kalten Nordens einzudringen, um 
endlich den lange gesuchten Nordpol zu erreichen, 
trotz aller erlittenen Strapazen immer wieder in jene 
unwirtlichen Gebiete zurückkehren, da der bleiche 
Hunger und der tödliche Frost lauern, da gewaltige 
Eismassen das gebrechliche, von Menschenhand ge 
zimmerte Fahrzeug zu zermalmen drohen, da alles 
Leben erstorben scheint und wochenlange Nacht sich 
über unabsehbare Eisfelder legt? Es ist nicht nur 
der Drang nach Abenteuern oder die Sucht, durch 
neue Entdeckungen sich Ruhm zu erwerben — ein 
geheimnisvoller Zauber, der über jenen Todesgefilden 
ausgebreitet ist, zieht sie vielmehr mit unwider 
stehlicher Gewalt an. Wenn die Mitternachtssonne 
als ein glutroter Ball tief am Horizonte im Kreise 
dahinwandelt, was beleuchtet da ihr milder Strahl? 
Riesendiamanten sind es, Krystallberge, die bald 
ins Rötliche, bald ins Himmelblaue, bald ins Blaß 
grüne spielen, während ihr Gipfel im herrlichsten 
Weiß prangt. Der Nordpolfahrer Dr. Hayes, ein 
Amerikaner, spricht in den Ausdrücken höchster Be 
geisterung von diesen Wundern einer ungeahnten 
Märchenwelt. „In der Ferne glitzerten Riesen 
streifen polierten Metalls, massiver Flammen,- in 
der Nähe ragten ungeheure Blöcke blendend weißen 
Marmors, die mit riesigen Perlen und Opalen aus 
gelegt waren. Einer war wie ein Kolosseum halb 
unter der blutroten Wasserlinie begraben. Das 
Sonnenrad, das sich langsam am Horizont hinwälzt, 
trat dahinter, und nun schien es, als hätte die alte 
römische Ruine plötzlich Feuer gefangen. In dem 
Schatten der Eisberge war das Wasser ein lebhaftes 
Grün; sanft stuften sich die Farben ab auf der flachen 
Zunge eines im seichteren Meere treibenden Berges. 
Wo das Eis über das Wasser hing, wurde die 
Färbung kräftiger. Eine tiefe Höhle verband die 
Ueber Land und Meer. Jll. Okt.-Heste, XVIII. 8. 
Ser kttwelt. 
massive Farbe des Malachits mit der Durchsichtig 
keit des Smaragds, während ein breiter Strich 
Kobaltblau quer durch seinen gewaltigen Körper 
lief. Und dazu sprangen von den schimmernden 
Massen tausend kleine, sprühende Wasserfälle in 
das schweigende Meer." 
Man ist geneigt, solche Schilderungen in das 
Gebiet der Phantasie, der ungezügelten Ein 
bildung zu verweisen. Und doch entsprechen sie 
nur der Wirklichkeit, ja sie erreichen sie bei 
weitem nicht. In der That, kein menschlicher 
Mund ist im stände, die Herrlichkeiten jener 
schweigenden Eiswelt auszusprechen, und kein 
Pinsel vermag die wunderbaren Farbentöne dar 
zustellen, die das Sonnenlicht auf dem kalten Eise, 
auf der smaragdenen Meeresfläche und den steilen 
Felsküsten entfernter Inseln hervorzaubert. 
„Da sitzest du vielleicht auf einer Schneebank; 
ringsumher schneeblitzende Felsenhügel und Gletscher. 
Myriaden von Krystallen schimmern im blassen 
Mondlicht — See und Land nichts als Eis; 
mächtige Eisberge auch am fernsten Horizont, wo 
sie sich gleich langen Gebirgsketten auftürmen. Du 
bist weit vom Lande. Du hörst nicht mehr das 
Krachen der mit der Flut steigenden und sinkenden 
Eistaseln. Da. regt kein Tier ein Glied, kein Baum 
einen knarrenden Ast, kein Vögelein die kleine 
Kehle. Du sehnst dich fast nach einer heulenden 
Bestie und erschrickst vor den eignen Herzschlägen, 
dem Hall der eignen Schritte. Plötzlich drängen 
all deine Sinne sich ins Auge. Es beginnt am 
Himmel zu dämmern, zu zucken, zu leuchten. Bald 
strahlt es wie von Millionen Glorien. Ein licht- 
und feuerfarbener Triumphbogen wölbt sich am 
Himmel. Feuergarben steigen auf, bläulich-weiß, 
gelb, grün, rosenfarben, purpurglühend. Jetzt ist 
der ganze Himmel ein Glanz, eine majestätische 
Kuppel auf Säulen bunten Lichtes!" 
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