Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 2. Band 1902 (44. Jahrgang / 2. Band / 1902)

Oie Macht am Kkein. 
(Fortsetzung.) 
^/ier Wochen, lange vier Wochen, — waren 
sie wirklich schon vorbei?! 
Viktor von Clermonts Urlaub neigte sich seinen: 
Ende zu; das Weihnachtsfest würde er nicht mehr 
zu Hause verleben, nur noch den Nikolaustag. 
Der war heute. 
Betrübt schlenderte er über die Kasernenstraße. 
Er zerbrach sich den Kopf, wie sollte er's er 
möglichen, ihr einen Weckmann zu schenken? Da 
war wohl keiner in ganz Düsseldorf, der heut, 
an Sankt Nikola, seiner Angebeteten nicht einen 
Weckmann verehrte. 
In allen Konditor- und Bäckerläden prangten 
die Weckmänner, große und kleine, von Kuchen 
teig und Weckteig, einfacher und leckerer, mit 
Schokoladenknöpfen und ohne Knöpfe, mit Man 
deln und Zitronat gespickt und ohne solche, aber 
alle mit Korinthenaugen und der Pfeife im Maul. 
Sinnend blieb er an einem Bäckerfenster stehen. 
Zweimal hatte er ihr was spendiert; das erste 
Mal eine Crtzmeschnitte bei Konditor Geister, das 
andre Mal freilich nur eine Düte gerösteter Kesten 
beim „Appel-Len", zu einer „Blase Leckers" hatte 
es nie gelangt. Ach, wenn das Taschengeld doch 
nicht so knapp wäre! Es reichte nicht immer zu 
den notwendigsten standesgemäßen Ausgaben, und 
der Vater konnte beim besten Willen nicht mehr 
geben; wenn der jetzt auch Major war, er war 
doch immer knapp. Na, hoffentlich würde es 
anders werden, wenn man erst Seiner Majestät 
Leutnant war bei der Garde! Bald würde es 
wohl Krieg geben — Viktor hoffte doch stark — 
und da wollte er sich nebst den Epauletten auch 
noch das Eiserne Kreuz verdienen, auf der. linken 
Brust zu tragen. 
Zögernd klimperte er mit seinen letzten paar 
Groschen in der Hosentasche — da, im Fenster, 
lag so ein ganz kleiner Weckmann, der würde gewiß 
nicht mehr kosten als ein Kastemännchen! *) Wie 
würde sie sich drüber freuen! Morgen mußte er 
ja ohnehin fort, und dem Mädel blieb nichts wie 
diese Erinnerung. „Ha, wie lecker," würde sie 
sagen und lachend ihre weißen Zähne in den 
hraunen Weckmann vergraben. Und seine Hand 
würde sie fassen wie letzthin, als er mit ihr im 
Hofgarten promenierte und es anfing schaurig 
dunkel zu werden unter den hohen Bäumen der 
Seufzerallee. Na, da mußte er sich eben das 
*) 21/2 Silbergroschen. 
Ueber Land und Meer. Jll. Okt.-Heste. XVHI. 7. 
Roman von 6. Viebig. 
Taschenbürstchen oder den Nägelpolierer ver 
kneifen. 
Entschlossen betrat er den Laden. Nach wenigen 
Augenblicken kam er wieder heraus, den kleinen 
Weckmann, in ein gelbes Papier eingeschlagen, 
sorgfältig in der Hand. Und nun ging er die 
Straße, auf der der Kaserne gegenüberliegenden 
Seite, immer auf und ab. 
Ob sie noch nicht kam? Sie hatte heute doch 
schulfreien Nachmittag. Ein Glück, daß Cäcilie 
den Schnupfen hatte und sich nicht anschlängeln 
konnte! Er wollte mit Josefine an den Rhein 
gehen, da gab's was zu sehen: Hochwasser. Die 
Brücke war heute nacht abgefahren worden, man 
hatte die Kanonenschüsse gehört, und am Morgen 
ging die Schreckeuskunde: ein Joch sei abgetrieben 
und ein Brückenwärter darauf. 
Wenn sie doch käme! Es war frostig heute; 
wenn's auch nicht goß, wie eigentlich seit ein 
paar Wochen ohne Unterlaß, so war es doch 
feuchtkalt, die ganze Luft von Wasserdunst erfüllt. 
Halt, knarrte jetzt nicht das Kasernenthor? So 
öffnete sie's immer, ein wenig mühsam, sich stem 
mend gegen die schwere Wucht des Thürflügels. 
Sie war's! Schon lief sie über die Straße 
auf ihn zu, aber sie war nicht allein, ihr jüngstes 
Brüderchen führte sie an der Hand. „Tag, Viktor! 
Das Karlchen will auch den Rhein kucken gehen. 
Und dann muß ich nach der Ratingerstraß'. Hau, 
der ganze Keller is da voll Wasser!" 
Viktor fühlte sich gekränkt. Wie lästig, daß sie 
das kleine Kind mitbrachte! Und dann wollte 
sie gleich nach der Ratingerstraße laufen, um das 
Wasser im Keller zu sehen. Also das war ihr 
die Hauptsache am letzten Tag?! Beleidigt steckte 
er den Weckmann in seine Rocktasche — wenn 
sie so war, nun, dann kriegte sie den auch nicht! 
Sie merkte nichts von seiner Verstimmung, 
lustig schwatzte sie. Nun hatte sie schon alle 
Frühjahr, wenn das Eis trieb und der Schnee 
schmolz, das Grundwasser in die Keller steigen, 
sämtliche Gossen und Kanäle der Stadt übertreten 
und auf den Wiesen der andern Seite die Weiden- 
büfche wie vereinzelte Haarschöpfe herausftehen sehen; 
aber so hoch wie jetzt und so früh im Winter 
war's noch nie gekommen. Jetzt standen ganze 
Straßen unter Wasser, und — jubelnd klatschte 
sie in die Hände — am Zollthor und in der 
Rheinstraße und Gott weiß wo noch sollten sie 
mit Kähnen fahren. 
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