Volltext: Über Land und Meer : deutsche illustrierte Zeitung 3. Band 1902 (44. Jahrgang / 3. Band / 1902)

Ueber CLand und Meer 
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der Weg eingeschlagen, daß die Morphiumgabe, 
die unter die Haut gespritzt wird, immer mehr mit 
Wasser verdünnt wird. Der Morphiumsüchtige 
erwartet, obgleich er vielleicht schon seit Wochen 
behandelt worden ist, mit voller Ungeduld die Ein— 
spritzung, und er empfindet vor dieser auch am 
Ende seiner Kur noch eine ganze Reihe quälender 
Beschwerden. Endlich verabreicht ihm der Arzt die 
tägliche, vermeintliche Morphiuminjektion. Mit 
einem Schlage sind alle Schmerzen und lästigen 
Empfindungen verflogen. Und doch ist dem Kranken, 
wie auch schon seit sechs, sieben Tagen vorher, weiter 
nichts eingeflößt worden als destilliertes Wasser. 
Vor einer Anzahl von Jahren erregte die 
Magnetotherapie, die Auflegung von Magneten, 
großes Aufsehen. Ihre Erfolge waren über— 
raschend. Denn es verschwanden durch die Auf— 
legung von Magneten auf die erkrankten Körper— 
stellen Schmerzen, Empfindungsstörungen und 
Lähmungszustände. Man stand so lange vor einem 
Rätsel, bis Bernheim und andre französische Aerzte 
zeigten, daß auch die Auflegung von nicht magneti— 
sierten Eisenstücken, ja nur von Holzplatten ge— 
nügte, um die gleichen Wirkungen herbeizuführen. 
Also nicht die magnetische Kraft, sondern nur die 
bloße Vorstellung von der Zweckmäßigkeit der Vor— 
nahme, der überzeugte Glaube an ihren Heilwert 
war der Urheber des Umschwunges. Auch bei der 
Elektrizität als Heilmittel spielt zum guten Teil 
der Glaube mit. Damit soll keineswegs behauptet 
sein, daß in allen Fällen ihr Einfluß ausschließlich 
dem Glauben zuzuschreiben ist. Aber bezeichnend 
ist es doch immerhin, daß man bei gewissen 
Krankheitsformen auch dann Besserung und Heilung 
erzielen kann, wenn man nur die Elektroden der 
Elektrisiermaschine aufsetzt, also ohne daß überhaupt 
der elektrische Strom zur Anwendung gelangt.“ 
Ein weites und glückliches Versuchsfeld für 
Glaubenskuren bietet die Schar der Nerven— 
schwachen, Hypochonder und Hysterischen dar. 
Namentlich diese letzteren sind für Scheinoperationen, 
mögen sie nun in Pinselungen, Untersuchungen mit 
dem Augenspiegel und Kehlkopfspiegel oder in dem 
Setzen von Blutegeln und in dem plötzlich herab— 
fallenden Strahl der kalten —— äußerst 
empfänglich. An sich sind solche Vornahmen ganz 
bedeutungslos, und trotzdem schwinden durch sie 
die hysterischen Krankheitserscheinungen, weil die 
Kranken überzeugt sind, daß sie ihnen nützen, 
während in Wirklichkeit nur die Vorstellung ihrer 
Heilkraft es ist, die mit siegreicher Gewalt die 
aervösen Störungen beseitigt. Aber es bedarf 
nicht einmal derartiger Hilfsmittel. Der eine 
zdraänke spricht seit langem nur mit tonloser Flüster— 
timme, eines zweiten Arm ist krampfhaft ver— 
rümmt, und ein dritter liegt seit Monaten mit 
zelähmten Beinen im Bett. Es sind dies alles 
deiden, denen keine organische Veränderungen der 
etreffenden Körperteile zu Grunde liegen, die aber 
rotzdem keineswegs auf Simulation beruhen. Man 
hat ohne Erfolg die verschiedensten Behandlungs— 
veisen versucht und wendet sich endlich an den 
Nervenarzt, der den Sachverhalt durchschaut. Und 
auf das bestimmte Geheiß, ein vorgesprochenes 
Wort laut zu wiederholen, auf das Gebot, den 
mporgehobenen, verkruͤmmten Arm in dieser Lage 
zu erhalten, auf den zwingenden Befehl, das Bett 
u verlassen und zu gehen, geschieht das Unglaub— 
iche: die Kranken sprechen mit tönender Stimme, 
ie können Hand und Arm nach Belieben bewegen, 
ie stehen auf und wandeln! Der Machtspruch 
»es Arztes hat alle Hemmnisse beseitigt, er hat den 
Hlauben der Kranken an ihr Leistungsvermögen 
intflammt, und diese plötzlich hereinbrechende geistige 
Revolution hat die unterbrochene Nervenleitung 
wischen dem Gehirn und den gebrauchsunfähigen 
Bliedern wieder hergestellt. 
Was hier die vom Arzt hervorgerufene geistige 
Aufwühlung erzielt, das vollbringt bei den Gebet— 
uren und den Wallfahrten die religiöse Erregung. 
Es ist kein Zufall, daß unter den Wunderheilungen 
an berühmten Wallfahrtsorten die Aufhebung von 
Lähmungen und verwandter Zustände in erster 
rdinie steht. Wer einmal der Echternacher Spring— 
rozession beigewohnt hat, wer die tiefe Erregtheit 
zjesehen hat, welche die nach der Kirche des heiligen 
Willibrord drängenden Massen ergreift, dem wird 
⸗s verständlich sein, daß die hochgradige geistige 
Anspannung in gleicher Weise zurückwirkt, wie es 
ins unsre Betrachtung gelehrt hat, und dann 
zurch die nervöse Aufrüttelung dem einen oder 
indern Kranken das zu teil wird, was er erfleht 
und erhofft, die Heilung. 
Es kaun sich hier nicht darum handeln, zu er— 
zrtern, ob überhaupt ein Eingreifen überirdischer 
Gewalten in den Verlauf einer Krankheit möglich 
ist. Nur darauf kam es an, tzu zeigen, welchen 
weit verzweigten Einfluß die Gehirnzentrale und 
die sich in ihr abwickelnden geistigen Prozesse auf 
körperliche Leiden ausüben, und wie in diesem 
Sinn das Wort eine ausgedehnte Geltung hat: 
„Der Glaube macht selig.“ G. F. Weißenberg 
frühlingsschnee 
Es ist ein Schnee gekfallen, I 
GSefallen über Nach. — 
Und hat der jungen Birke 
Das Röpfchen schwer gemacht. 
Da küsst die liebe Sonne 
Herzinnig Zweig und Ast, 
Und sieh! zu lichten Thranen 
Zerduillt die weisse Last. 
Mein Liebchen, lass dich küssen. 
Dann schmilzt der kalte Schnee, 
Du weinest dir vom Herzen 
Des MWinters letztes Wleh! 
Reinhard Volker
	        
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