Widerstreit wegen des deutschen Ostheeres
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Gdl. Conrad das russische Heer nehmen wollte. Einzig eine Verhin¬
derung „durch den Feind'4 rechtfertigte nach den Friedensabmachungen
ein etwaiges Unterlassen des zugesagten Angriffes. Eine solche Ver¬
hinderung war aber nach Conrads Auffassung noch lange nicht gegeben.
Im Gegenteil hiezu verriet schon das am 3. August eingelangte
Schreiben Moltkes geringen Glauben an die Operationsfreiheit des deut¬
schen Ostheeres in der von Conrad gewünschten Richtung. Es verhieß
eine Offensive nach Rußland hinein nur für den Fall, daß dieses nicht
frühzeitig und mit stark überlegenen Kräften in Ostpreußen einbrach,
und sprach auch nur ganz allgemein von einer Stoßrichtung, „welche
dem österreichischen Heere die größte Erleichterung bringt". Gdl.
Conrad gab sich aber mit einem so allgemeinen Versprechen nicht zu¬
frieden. Er forderte ausdrücklich einen Vorstoß des deutschen Ostheeres
in der im Frieden vereinbarten Richtung. Dieses Verlangen blieb in den
nächsten drei Wochen das Um und Auf seiner Auseinandersetzungen
mit dem deutschen Generalstabe und wurde es um so mehr, je klarer
gegen Mitte August der Aufmarsch des Feindes und damit das Zu¬
sammenballen starker russischer Kräfte im Räume Warschau—Brest-
Lit owsk—Lublin zu erkennen war.
Nach dem Bilde, das sich der k. u. k. Chef des Generalstabes am
IS. August über die Lage beim Feinde machte1), zog dieser drei große
Kraftgruppen zusammen. Die nördlichste unter GdK. Rennenkampf be¬
drohte Ostpreußen von Osten her und wurde vom k. u. k. AOK. auf sechs
bis sieben Korps geschätzt. Eine mittlere Gruppe, welche die fünf Korps des
Moskauer Militärbezirkes und vielleicht noch die zwei Kasaner Korps
umfaßte, sammelte sich um Brest-Litowsk und etwa auch gegen Cholm
und Lublin hin; sie schien sich am Narew durch ein Korps, an der
galizischen Grenze zwischen Weichsel und Bug durch zwei bis drei
Korps (XIV., XIX. und vielleicht noch Teile des XIII.) zu sichern. Eine
dritte, die südlichste Kraftgruppe, die offenbar aus den Truppen der
Militärbezirke Kiew und Odessa und wohl noch einem kaukasischen
Korps, also zusammen aus acht Korps bestand, reichte gegenüber der
Ostgrenze Galiziens von Dubno bis an den Dniester oder Pruth und
wurde rechts, bei Kowel, möglicherweise noch durch die zwei Kasaner
Korps verstärkt. Diese dritte Gruppe bedeutete für das in Ostgalizien
aufmarschierende öst.-ung. Heer eine gewaltige Flankenbedrohung, wäh¬
rend sich die russische Mittelgruppe ebenso südwärts wie geradewegs
nach Westen in den Rücken Deutschlands wenden konnte. Immerhin war
1) Conrad an Prittwitz, Wien, 15. August; Conrad, IV, 392 ff.